zum Hauptinhalt
Ein palästinensischer Vater trauert um seinen Sohn, der bei einem israelischen Luftschlag getötet wurde.

© REUTERS/Dawoud Abu Alkas

Bericht über israelisches Geheimdokument: Todesrate unter Zivilisten in Gaza ist offenbar höher als angenommen

Eine investigative Recherche zeigt: Die große Mehrheit der Todesopfer im Gazastreifen sind wohl Zivilisten. Forschern zufolge könnte es sich um einer der höchsten zivilen Todesraten überhaupt handeln.

Stand:

Die Zahl der zivilen Todesopfer im abgeriegelten Gazastreifen ist womöglich deutlich höher als bisher angenommen: Nur 17 Prozent der Getöteten im Gazastreifen waren offenbar Kämpfer der Terrororganisation Hamas oder des Palästinensischen Islamischen Dschihads.

Das berichtet der britische „Guardian“ gemeinsam mit den israelisch-palästinensischen Medienprojekten „Local Call“ und „+972-Magazin“, nachdem sie Einsicht in ein geheimes Dokument des israelischen Militärnachrichtendienstes genommen haben. Demnach hat die Behörde rund 9000 tote oder „wahrscheinlich tote“ Terroristen im Gazastreifen aufgelistet.

Für denselben Zeitraum berichtet das Gesundheitsministerium in Gaza von rund 53.000 getöteten Palästinensern seit Oktober 2023. Rechnet man beide Angaben gegeneinander auf, würde man auf 44.000 tote Zivilisten in Gaza kommen. Das entspräche 83 Prozent der Toten in Gaza.

Damit wäre der Krieg im Gazastreifen einer der tödlichsten für Zivilisten. „Bis auf Ruanda in den 1990er Jahren gibt es keinen Gesamtkonflikt, in dem die zivile Todesrate höher liegt“, schreibt Therése Pettersson dem Tagesspiegel. Sie forscht an der Universität Uppsala und leitet das Conflict Data Program. Während des Genozids in Ruanda waren 99 Prozent der Todesopfer Zivilisten.

Immer wieder wurden die Todeszahlen aus dem Küstenstreifen in der Vergangenheit angezweifelt. Unabhängig überprüfen lassen sich die Zahlen der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde nicht, auch für die internationale Presse bleibt der Gazastreifen abgeriegelt. Internationale Nichtregierungsorganisationen halten die Zahlen allerdings für glaubwürdig. 

Auch Israel selbst stuft die Zahlen intern als zuverlässig ein. Aharon Haliva, der Ex-Militärgeheimdienstchef Israels, räumte kürzlich den Tod von mehr als 50.000 Palästinensern ein. In einer geleakten Aufnahme, die im israelischen Fernsehen veröffentlicht wurde, bezeichnete er das als „notwendig und erforderlich für künftige Generationen“. Gegenüber dem „Guardian“ erklärte die israelische Armee lediglich, die Zahlen seien falsch, ohne anzugeben, welche Daten bestritten werden.

Der Recherche des „Guardian“ zufolge ist das Verhältnis zwischen den getöteten Zivilisten und den getöteten palästinensischen Kämpfern höher als in anderen Kriegen. Im Sudan beträgt die Rate mindestens 49,5 Prozent, in der Ukraine mindestens 10 Prozent, in Syrien mindestens 29 Prozent.

Nur einzelne, auf eine einzige Stadt ausgeführte Angriffe hatten in der Vergangenheit höhere zivile Todesraten: Bei der russischen Zerstörung Mariupols waren nur fünf Prozent der Toten Soldaten, in Srebrenica machten Zivilisten 92 Prozent der Toten aus.

Deutschland sollte sich jetzt die Frage stellen, wie es seine aktuelle Unterstützung für Israel noch demokratisch und völkerrechtlich legitimieren kann.

Solveig Richter, Friedens- und Konfliktforscherin an der Universität Leipzig

Die Politikwissenschaftlerin Pettersson sagt, die hohen zivilen Todeszahlen lägen auch an der extrem dichten Besiedlung des Gazastreifens. Die heftigen israelischen Luftangriffe, Artilleriebeschüsse und folgenden zivilen Kollateralschäden nehme das israelische Militär in Kauf. Und die Möglichkeit zu fliehen, wie es die Menschen im Sudan oder der Ukraine hätten, stehe den Palästinensern nicht offen.

Einige Experten rechnen mit noch höheren Todeszahlen. Viele Opfer unter den Trümmern in Gaza konnten bisher nicht geborgen werden. „Sollten diese Zahlen stimmen, stellt das die israelische Legitimation für ihre Kriegsführung stark infrage“, sagt Solveig Richter, Friedens- und Konfliktforscherin an der Universität Leipzig.

Kinder in Gaza versuchen, eine Mahlzeit in einem Verteilungszentrum zu erhalten.

© Imago/Anadolu Agency/Abdalhkem Abu Riash

Am Freitag wurde im Norden Gazas offiziell eine Hungersnot ausgerufen. Die Politologin Richter sieht auch in der vorausgegangen monatelangen israelischen Blockade von Lebensmitteln ein Bruch mit dem Völkerrecht, „der einem legitimen Verteidigungsrecht widerspricht“. Israel führt in Gaza einen Kampf gegen die Hamas, nachdem diese am Angriff auf den jüdischen Staat am 7. Oktober 2023 beteiligt war, bei dem mehr als 1000 Israelis getötet und mehrere Hundert verschleppt wurden.

Solveig Richter fordert ein Umdenken der deutschen Bundesregierung: „Deutschland sollte sich jetzt die Frage stellen, wie es seine aktuelle Unterstützung für Israel noch demokratisch und völkerrechtlich legitimieren kann.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })