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Besonderes Schülerprojekt in Jerusalem: Israelis und Palästinenser nähern sich an – und werden angefeindet
Jüdische und arabische Schüler aus Ost- und Westjerusalem treffen sich zum Basteln und Reden. Für viele ist es der erste Kontakt mit der anderen Seite. Kann „Gemeinsames Lernen“ etwas bewirken?
Stand:
Zwanzig Kinder sitzen im Kreis. Ein Ball macht die Runde. Wer fängt, muss etwas Nettes sagen zu demjenigen, der geworfen hat.
Ein Mädchen mit dunklem Pferdeschwanz wirft. Ein Mädchen mit dunklen Locken fängt. Sie murmelt etwas. Eine junge Frau mit schwarzem Kopftuch wiederholt: „Inti hilwa“, Arabisch für: Du bist hübsch. Danach übersetzt sie ins Hebräische: „At yafah.“ Ein leises Raunen geht durch die Runde. Das Mädchen mit dem Pferdeschwanz lächelt.
Die Kinder in der Vorpubertät, die hier zusammensitzen, in einer Museumshalle in Jerusalem, kennen einander kaum. Die Hälfte von ihnen kommt aus dem jüdisch geprägten Westteil der Stadt, die andere aus einer arabischen Schule in dem von Israel völkerrechtswidrig annektierten Ostteil.
Für die meisten von ihnen ist es das erste Mal, dass sie Kinder der anderen Seite treffen. Dass sie mit ihnen sprechen, obwohl sie keine gemeinsame Sprache haben.
Malen, töpfern, kennenlernen
„Gemeinsames Lernen“ heißt das Programm, das Treffen wie diese möglich macht. Verschiedene Organisationen in Jerusalem beteiligen sich daran. Im Museum für die Länder der Bibel stehen die Treffen im Zeichen Abrahams, der Juden, Christen und Muslime gleichermaßen als Stammvater gilt.
In gemischten Gruppen müssen die Schüler Aufgaben erledigen, Fragen beantworten, Bilder malen oder töpfern. Vor allem aber geht es darum, dass sie einander trotz der politischen Spannungen begegnen – als das, was sie sind: Kinder.
Wer Menschen persönlich kennenlernt, kann sich besser mit ihnen identifizieren.
Udi Spiegel, Leiter des Projektes
„Der Glaube, auf dem das Programm basiert, lautet: Wer Menschen persönlich kennenlernt, kann sich besser mit ihnen identifizieren“, sagt Udi Spiegel. „Daraus kann eine bessere Gesellschaft entstehen.“
Spiegel, ein Mann mit sanfter Stimme und klaren Sätzen, leitet das Projekt im Auftrag der Stadt. Gefördert wird es von gemeinnützigen Trägern wie der Jerusalem-Stiftung. Betrieben wird es vom Rathaus selbst – einem Rathaus, das seit Jahrzehnten von rechten und religiösen Kräften gelenkt wird.
Dahinter, erklärt Spiegel, stehe der Wunsch, Kontakte zwischen zwei Bevölkerungsgruppen zu knüpfen, die zwar Straßen und Busse teilen, ansonsten jedoch kaum Berührungspunkte haben.
Gegner auf beiden Seiten
Es gibt Menschen in der Stadt, die wollen, dass das so bleibt. Das Projekt hat Gegner auf beiden Seiten: rechte Israelis, die alle Palästinenser für Staatsfeinde halten; nationalistische Palästinenser, die jede Form von „Normalisierung“, von Kooperation mit jüdischen Israelis, ablehnen.
In der Vergangenheit sei es vorgekommen, dass Eltern die Direktoren teilnehmender Schulen bedroht hätten, berichtet Spiegel. Innerhalb Israels bemühen sich die Verantwortlichen deshalb, das Projekt von den Augen der Öffentlichkeit fernzuhalten.
Ausländische Medien dürfen berichten, sofern sie bestimmte Regeln einhalten: keine Schüler fotografieren, nicht die Namen der beteiligten Schulen nennen. Israelische Reporter dagegen sind nicht willkommen.
Schüler mögen die Treffen
Den Schülern, die sich an diesem sonnigen Dezembermorgen im Museum versammelt haben, sind die Spannungen der vergangenen Jahre äußerlich nicht anzumerken. Sie möge das Programm sehr, sagt die zwölfjährige Elinur, eine jüdische Schülerin. Hat sie Gemeinsamkeiten mit den palästinensischen Schülern entdeckt? Sie nickt. „Fußball“, mischt sich ein Junge namens Yotam ein, „und Schach“.
Sie habe viel von den jüdischen Schülern gelernt, sagt eine palästinensische Schülerin namens Mayar, zum Beispiel über ihre Sprache. Sie probiert ein paar Sätze auf Hebräisch, bevor sie zurück ins Arabische wechselt. Ein Junge namens Yusef stellt sich dazu. „Das Programm hat Vor- und Nachteile“, erklärt er. „Ich mochte die gemeinsamen Aktivitäten.“ Und die Nachteile? „Dass es nur vier Treffen gibt.“
Vier, maximal fünf Treffen sieht das Programm vor. Angesichts der Mauern aus Misstrauen und Vorurteilen, die beide Seiten trennen, scheint das nicht viel.
Dennoch, davon zeigen sich alle überzeugt, die man danach fragt, können diese Stunden etwas bewegen. Vor allem in Zeiten wie diesen, in denen die Beziehungen zwischen Israels jüdischen und arabischen Bürgern, zwischen Jerusalems israelischen und palästinensischen Einwohnern so angespannt sind wie lange nicht mehr.
Die Brutalität der Hamas-Terroristen am 7. Oktober 2023 hat die politische Haltung vieler jüdischer Israelis verhärtet. Die Bilder von Zivilisten aus Gaza, die überfallene Kibbuzim plündern oder auf israelische Leichen spucken, haben sich im kollektiven Gedächtnis der jüdischen Mehrheitsgesellschaft tief und schmerzhaft eingebrannt.
Selbst viele Linke meinen seitdem, mit den Nachbarn lasse sich kein Frieden schließen. Und manche dehnen ihr Misstrauen auf ihre arabischen Mitbürger in Israel aus, von denen viele sich als Palästinenser identifizieren.
Viele arabische Bürger Israels wiederum hat es schockiert, wie wenig Raum israelische Medien den palästinensischen Kriegsopfern in Gaza gaben. Wie viele jüdische Israelis plötzlich bereit waren, zu sagen, es gebe dort keine Unschuldigen, auch vor laufender Kamera.
Der Staat misstraut seinen arabischen Bürgern
Zugleich schlug vielen Arabern eine Welle des Misstrauens entgegen – auch und gerade vonseiten des Staates: Etliche Lehrer, Anwälte, Studenten und Aktivisten wurden von der Polizei verhört, weil sie sich in den sozialen Medien solidarisch mit den Menschen in Gaza geäußert hatten.
Der Hass auf Araber hat sich seit dem 7. Oktober verschärft.
Samuel Fanous, anglikanischer Pfarrer in der israelischen Stadt Ramle.
„Das Verhältnis zwischen Juden und Arabern war nie einfach“, sagt Samuel Fanous dem Tagesspiegel. „Aber so wie jetzt war es noch nie.“ Fanous ist Pfarrer einer anglikanischen Kirche in Ramle, einer Kleinstadt im Zentrum des Landes.
„Der Hass auf Araber hat sich seit dem 7. Oktober verschärft“, sagt er. „Viele von uns reden in der Öffentlichkeit weniger Arabisch.“ Von der anderen Seite werde er angefeindet, wenn er sich in den sozialen Medien bei interreligiösen Treffen mit jüdischen Geistlichen zeige. „Man sitzt ständig zwischen den Stühlen.“
Die Teilnehmerzahlen steigen wieder
Inmitten dieses politischen Konfliktes bewegen sich auch die Verantwortlichen des Programms „Gemeinsames Lernen“. In den ersten Monaten nach dem 7. Oktober sei es unmöglich gewesen, gemeinsame Treffen abzuhalten, berichtet Projektleiter Spiegel. „Auf beiden Seiten waren die Spannungen enorm.“
Im zweiten Jahr des Krieges liefen die Schülertreffen erneut an, wenngleich nur wenige Schulen mitmachen wollten. Nun, seit der Waffenruhe im Oktober, steigen die Zahlen wieder.

© AFP/Ilia Yefimovich
Rund 300.000 Schüler gibt es in Jerusalem. In den zehn Jahren seines Bestehens hat das Programm den Verantwortlichen zufolge einige Tausend Schüler erreicht.
Dialog ohne schmerzhafte Themen
Doch was können vier Treffen, jeweils ein paar Stunden lang, im Leben eines jungen Menschen verändern?
Stellt man Spiegel diese Frage, spricht er nicht über das Projekt. Zum ersten Mal seit Beginn der Unterhaltung spricht er über sich selbst. „Früher habe ich gedacht: Wenn beide Seiten nicht über alle schmerzhaften Themen sprechen, ist es kein echter Dialog“, sagt er.
„Inzwischen verstehe ich, dass es Dinge gibt, auf die sich beide Seiten wohl niemals einigen werden – und dass das auch gar nicht sein muss. Einen anderen Menschen vor sich zu sehen, ihn anzulächeln, und er lächelt zurück – in unserer Realität ist das schon viel.“
Ex-Teilnehmerin betreut jetzt das Projekt
Es gibt noch mehr Beispiele, die Hoffnung machen. Yasmeen Zahayka etwa, eine 20-jährige Palästinenserin, die vor fast zehn Jahren selbst als Schülerin an dem Programm teilnahm. „Damals habe ich beschlossen: Wenn ich größer bin, werde ich selbst dabei mitarbeiten.“

© Mareike Enghusen
Inzwischen ist sie Lehrerin – und Betreuerin des Projekts. Sie winkt einer jüdischen Kollegin zu: „Zwischen uns war es Liebe auf den ersten Blick“, scherzt sie. Dann wird sie wieder ernst. „Ich wünschte, das Programm würde wachsen.“
Programme wie dieses werden den Konflikt zwischen zwei Völkern nicht lösen. Sie werden keinen Politiker umstimmen, der das Westjordanland annektieren und die Palästinenser daraus vertreiben will. Sie werden keinen Islamisten besänftigen, der die Auslöschung des israelischen Staates predigt.
Aber sie werden vielleicht in den Köpfen einiger junger Menschen Erinnerungen an Gleichaltrige schaffen, die Fußball oder Schach mochten, die scherzten und lachten und schüchtern oder vorlaut waren wie sie selbst.
„Einander akzeptieren, wie Gott uns erschaffen hat“, sagt Vater Samuel aus Ramle, „darin liegt unsere größte Hoffnung“.
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