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Brief des Papstes an US-Rabbiner: Ein Signal der Verständigung an die jüdische Welt
Papst Leo XIV. will den Dialog mit dem jüdischen Volk vertiefen. Das könnte helfen im Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus und religiöse Intoleranz.
Stand:
Am 8. Mai 2025, nur wenige Stunden nach seiner Wahl, setzte Papst Leo XIV. ein bemerkenswertes Zeichen an die jüdische Welt: In einem persönlichen Schreiben an Rabbiner Noam Marans, Direktor für interreligiöse Angelegenheiten beim American Jewish Committee (AJC), bekräftigte er seine „Verpflichtung, den Dialog und die Zusammenarbeit mit dem jüdischen Volk fortzusetzen und zu vertiefen“.
Das Schreiben wurde bewusst noch vor der feierlichen Inaugurationsmesse versendet, die am 18. Mai 2025 auf dem Petersplatz in Rom stattfand – ein Akt, der über diplomatische Höflichkeit hinausweist und als bewusstes Signal zu verstehen ist.
Dieser Brief steht in der Tradition eines historischen Wendepunkts, der mit der Erklärung Nostra Aetate des Zweiten Vatikanischen Konzils von 1965 seinen Anfang nahm.
In diesem wegweisenden Dokument distanzierte sich die katholische Kirche erstmals ausdrücklich von der Lehre einer kollektiven Schuld der Juden an der Kreuzigung Jesu.
Zugleich betonte sie die tiefen spirituellen Wurzeln des Christentums im Judentum und rief zu einem respektvollen Dialog auf – ein Wendepunkt im Verhältnis zwischen beiden Religionen.
Diese Neubewertung war nicht nur theologischer Natur, sondern auch eine moralische Antwort auf die Schoah und die Notwendigkeit, historische Schuld aufzuarbeiten.
Die seither fortschreitende Annäherung umfasst mehrere Meilensteine: die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen dem Vatikan und Israel im Jahr 1993, den historischen Besuch Johannes Pauls II. in Israel im Jahr 2000 sowie die Besuche seiner Nachfolger.
Doch der Weg zur Verständigung war – und ist – kein einfacher. Auch die Beziehungen zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Staat Israel sind bis heute von Spannungen und wechselseitigem Misstrauen geprägt.
Der Eindruck des stillen Protests
Besonders während des Pontifikats von Papst Franziskus kam es zu Irritationen, nicht zuletzt infolge seiner öffentlich geäußerten Kritik am israelischen Vorgehen im Gaza-Krieg 2023. Diese Äußerungen wurden in Jerusalem und in vielen jüdischen Gemeinden weltweit als unausgewogen und wenig sensibel empfunden.
Vor diesem Hintergrund wirkte das Fernbleiben eines hochrangigen israelischen Repräsentanten bei der Trauerfeier für Papst Franziskus wie ein diplomatisches Missgeschick. Der Eindruck eines stillen Protests stand im Raum – und wurde international als solcher interpretiert.

© dpa/Ana Brigida
Das Signal wirkte irritierend, nicht nur im Vatikan, sondern auch in der breiteren christlichen Welt, für die Papst Franziskus eine prägende intellektuelle und spirituelle Figur war. Der Vatikan kommentierte den Vorfall offiziell nicht, doch Beobachter sprachen von einer „spürbaren Enttäuschung“ in kirchlichen Kreisen
Gerade deshalb kommt dem Schreiben von Papst Leo XIV. besondere Bedeutung zu. Es ist nicht nur ein Akt der Kontinuität mit seinen Vorgängern, sondern auch ein Zeichen der Erneuerung: „In diesen herausfordernden Zeiten“, schreibt Leo XIV. in seinem Brief an Rabbiner Marans, „sind wir als Glaubensgemeinschaften besonders gefordert, Brücken zu bauen, statt Mauern zu errichten. Unser gemeinsames Erbe verpflichtet uns zu gegenseitigem Respekt und aufrichtigem Dialog.“
Kommission gegen wachsenden Antisemitismus
Der Papst kündigte zudem an, eine gemeinsame Kommission einzurichten, die konkrete Schritte gegen den weltweit zunehmenden Antisemitismus erarbeiten soll – ein Thema, das ihm, wie er betont, „besonders am Herzen liegt“. Die Einladung von Rabbiner Marans zur Inaugurationsmesse unterstreicht diese Geste.
Der israelische Staatspräsident Herzog gratulierte dem neuen Papst schriftlich und äußerte die Hoffnung auf verstärkten interreligiösen Dialog unter dessen Führung. Er lud Leo XIV. herzlich nach Israel ein, um gemeinsam die für beide Religionen bedeutsamen heiligen Stätten zu besuchen.
Leos Perspektive könnte in einer zunehmend polarisierten Welt dazu beitragen, den jüdisch-katholischen Austausch zu vertiefen – nicht als abstrakte theologische Übung, sondern als gemeinsame Aufgabe im Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus und religiöse Intoleranz.
Ilan Mor
Leo XIV. bringt nicht nur eine neue geografische Herkunft mit – er ist der erste US-Amerikaner auf dem Stuhl Petri –, sondern auch eine pluralistische Prägung. Als Kind einer Gesellschaft, in der religiöse Vielfalt gelebte Realität ist, kennt er den interreligiösen Dialog nicht als Ausnahme, sondern als Normalität.
Diese Perspektive könnte in einer zunehmend polarisierten Welt dazu beitragen, den jüdisch-katholischen Austausch zu vertiefen – nicht als abstrakte theologische Übung, sondern als gemeinsame Aufgabe im Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus und religiöse Intoleranz.
„Die Würde des Menschen ist unteilbar“, betont er. „Wer einen Menschen aufgrund seiner Religion, Herkunft oder Überzeugung herabwürdigt, verletzt fundamentale Prinzipien, die Christen und Juden gleichermaßen heilig sind.“
Einfluss auf den Nahen Osten?
Für den Nahen Osten könnte der neue Ansatz des Papstes ebenfalls Bedeutung entfalten. Die von ihm angekündigte „ausgewogene, aber prinzipientreue Haltung“ in Bezug auf den israelisch-palästinensischen Konflikt wird in der Region aufmerksam beobachtet.
Die Herausforderungen bleiben bestehen: Wie lässt sich mit historischen Wunden umgehen, ohne sie zu verdrängen? Wie kann ein Dialog zwischen Religionen konkrete gesellschaftliche Wirkung entfalten? Wie kann die Kirche glaubwürdig in einer Welt auftreten, in der Religion nicht selten als Quelle von Spaltung wahrgenommen wird?
In Rom hat man ein solches Zeichen gesetzt – nicht nur an die jüdische Welt, sondern an alle, die an die Kraft des Dialogs glauben. Versöhnung ist möglich, wenn der Wille zur Verständigung besteht.
Die Hand, die Papst Leo XIV. ausgestreckt hat, verdient eine Antwort – nicht nur aus Jerusalem oder New York, sondern aus allen Teilen einer Welt, die interreligiöse Verständigung heute dringender denn je braucht.
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