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Deutschlands To-Do Liste: 20 Punkte, um Europa zu retten
Politikexperten aus zehn EU-Mitgliedsstaaten fordern von der künftigen Bundesregierung mehr Mut, Vision und Engagement für ein starkes Europa. Ihre wichtigsten Punkte.
Stand:
Am vergangenen Donnerstag kamen die Regierungschefs der EU in Paris zusammen, um über die zukünftigen Sicherheitsgarantien für die Ukraine zu verhandeln. Das Treffen in Paris reiht sich ein in die zuletzt gemachten Fortschritte für Europas Verteidigung: die Lockerung der deutschen Schuldenbremse, die EU-Kredite für gemeinsame Verteidigungsausgaben und die jüngsten Vorschläge zur europäischen Verteidigungsbereitschaft.
So wichtig diese Schritte sind, so gefährlich ist die Verengung auf militärische Fähigkeiten und unmittelbare Konfliktherde. Europas Sicherheitspolitik heute braucht mehr.
Zum einen werden Konflikte längst hybrid geführt. Neben den zunehmenden wirtschaftlichen Spannungen mit den USA und den angekündigten Zöllen von Trump, zeigt sich das vor allem in der aggressiven Wirtschaftspolitik Chinas. China arbeitet unter Hochdruck daran, die globalen Schlüsselmärkte von morgen zu übernehmen. Bereits heute kann China die Hälfte des globalen Pkw-Bedarfs produzieren. Bei allen Produkten der Zukunft ist die chinesische Produktion bereits führend oder holt rasant auf – bei seltenen Erden, Batterien oder E-Autos.
Zum anderen prägen langfristige Trends die Geopolitik. Der Klimawandel geht mit drastischen Machtverschiebungen einher. Wenn sich Trump für Grönland interessiert, dann auch, weil unter dem Eisschild massive Ressourcen liegen und neue Seewege frei werden. Russland wird von der Erderwärmung profitieren, da riesige Landflächen landwirtschaftlich nutzbar werden und sich die Lebensmittelmärkte verschieben. Was heute die seltenen Erden sind, werden morgen Getreide und Wasser sein: kritische Rohstoffe, die sich als politisches Druckmittel einsetzen lassen.

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Die neue Bundesregierung steht vor der doppelten Herausforderung, nicht nur die unmittelbaren Lücken der europäischen Verteidigungskapazität zu schließen. Sie muss es zugleich schaffen, die EU zu einem Machtpol weiterzuentwickeln, der in der Lage ist, proaktiv Antworten auf eine immer komplexere und sich langfristig zuspitzende globale Bedrohungslage zu formulieren.
Deutschland muss mehr Führungsstärke zeigen
Gemeinsam mit führenden Politikexperten aus zehn Mitgliedsstaaten haben wir formuliert, was das für die neue Bundesregierung bedeutet. Unsere To-Do Liste ist ein Aufruf, dass die nächste deutsche Regierung im Schulterschluss mit den europäischen Partnern Führungsstärke beweist.
Kein Team gewinnt, wenn alle Mitspieler in unterschiedliche Richtungen rennen. Nationale Politikstrategien sind keine effektive Antwort auf den aggressiven Wettbewerb der USA und Chinas. Während die Ausgaben für Forschung in der EU gemessen am BIP höher sind als in den USA, verteilen sie sich auf 27 nationale Haushalte ohne gemeinsame Prioritäten. Ähnlich zersplittert sind Verteidigungsausgaben, Außenpolitik, staatliche Beihilfen, Exportförderung und die Wahl strategischer Handelspartner.
Neben gemeinsamer Beschaffung und Forschung im Verteidigungsbereich muss die Bundesregierung deshalb vor allem eine europäische Verzahnung nicht nur von Handels- und Wettbewerbspolitik, sondern auch von Industrie- und Außenpolitik vorantreiben. Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit ist europäisch – sie gelingt nur, wenn die EU die Stärken ihrer Mitgliedsstaaten klug kombiniert: Innovationskraft in Deutschland, den Niederlanden und Finnland; günstige Löhne in Rumänien, Polen und Estland; ein Überfluss an erneuerbarer Energie in Spanien und Schweden.
1. Europäische Prioritäten
Säule eins der To-Do-Liste ist daher, dass die Politiken der Mitgliedsstaaten – seien es Investitionen, Subventionen, Steuererleichterungen oder Forschung – auf gemeinsame technologische und außenpolitische Prioritäten einzahlen. Lichtblicke in der Wirtschaftspolitik entstehen nicht wenn wir auf Schwächen, sondern auf Stärken schauen. Davon gibt es einige: Ob bei grünen Technologien, im Maschinenbau, im Recycling von Rohstoffen oder in der Biotechnologie – die EU hat Potenziale, die es verteidigen kann, wenn der politische Wille vorhanden ist. Potenziale, mit denen sie auf die geoökonomischen Machtverschiebungen und die Auswirkungen des Klimawandels gleichzeitig reagieren kann.
Dafür braucht es eine geoökonomische Strategie für europäische Wirtschaftssicherheit. Wer auch immer das Wirtschaftsministerium führt, täte gut daran, in der EU eine innovative Industriepolitik anhand europäischer Prioritäten voranzutreiben.
2. Europäische Finanzierung
Alle Rufe nach Wettbewerbsfähigkeit und technologischer Führung verhallen ohne finanzielle Unterlegung – Säule zwei des 20-Punkte-Plans. Auch beim EU-Budget ist ein „Weiter so“ keine Option. Allein um bei einzelnen Zukunftstechnologien mitzuhalten, braucht das nächste EU-Budget mindestens 550 Milliarden Euro an zusätzlichen öffentlichen Investitionen für grüne Technologien, die Stärkung der Rohstoffsicherheit oder Halbleiterforschung. Gemessen an der Wirtschaftsleistung ist das wenig Geld für potenziell sehr große Wirkung.
Nach Deutschlands Investitionsprogramm und mehr europäischem Geld für Verteidigung müssen auch in der Wirtschaftspolitik der EU Konsequenzen aus der veränderten Weltlage gezogen werden. Kurzfristig sollte sich die Bundesregierung für einen Wettbewerbsfähigkeitsfonds von 190 Milliarden Euro einsetzen, der später in das EU-Budget überführt wird. Es wäre nicht das erste Mal: Ob bei der Einführung der Agrarpolitik zur Stärkung der Nahrungsmittelsouveränität in den 1960ern oder bei der Schaffung des Binnenmarktes in den 1990ern – stärkere europäische Zusammenarbeit ging stets mit einem höheren Budget einher.
3. Europäische Außenpolitik
Drittens muss die EU endlich eine gemeinsame Sprache in der Außenpolitik finden und die dafür nötigen Strukturen schaffen. Dazu gehört ein Ort, an dem gemeinsame Bedrohungsanalysen entwickelt werden. Über eine Expertengruppe für europäische Geopolitik ließe sich eine geteilte Problemwahrnehmung als Grundlage für gemeinsame Entscheidungen etablieren.
Damit diese Positionen gestärkt werden, muss die Bundesregierung außerdem eine gemeinsame Außenpolitik zur Priorität machen – auch wenn es möglicherweise bedeutet, Souveränität abzugeben und zunächst nur mit einer möglichst großen Gruppe zentraler Schlüsselstaaten enger zusammenzuarbeiten.

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Das schließt eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Abweichlern wie Ungarn ein. Denn das größte Sicherheitsrisiko für die EU liegt in ihrer internen Spaltung.
Mehr Mut wagen
Die heutigen Regeln der EU wurden für eine Welt konzipiert, in der europäische Unternehmen weltweit technologisch führend waren, in der die Integration der Märkte über strategischer Autonomie stand und in der multilaterale Zusammenarbeit Stabilität und freien Handel garantierte. Diese Prämissen gelten heute nicht mehr.
Europa kann nicht erfolgreich sein, wenn Deutschland an überholten Freihandelsprinzipien und der Marginalisierung von Industriepolitik festhält, während Europas Gegenspieler massiv in globale und nationale Lieferketten, industrielle Kapazitäten und technologische Vorherrschaft investieren.
Die neue deutsche Regierung muss sich entscheiden: führen und die europäischen Regeln auf den Stand der Zeit bringen oder riskieren, dass Europa zu einer Arena wird, in der andere die Regeln bestimmen.
Es muss gelingen, sich vereint auf die langfristigen Machtverschiebungen und hybriden Bedrohungen der Geopolitik vorzubereiten, statt sich auseinanderdividieren zu lassen.
„Europäisch“ muss die Handlungsmaxime sein. Was sonst auf dem Spiel steht, ist nicht nur die europäische Wirtschaft, sondern das gesamte demokratische, auf Menschenrechten basierende europäische Modell. Die Kosten der Untätigkeit werden sich nicht nur in verlorenen Marktanteilen niederschlagen, sondern auch in der Erosion von Europas Fähigkeit, seine eigene Zukunft zu gestalten.
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