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Seit Monaten protestieren Tausende Israelis für die Freilassung der Geiseln – und kritisieren die eigene Regierung, dafür zu wenig zu tun.

© IMAGO/Anadolu Agency/IMAGO/Saeed Qaq

„Egal, wie es um ihn steht, ich hole ihn zurück“: Darum haben Angehörige der israelischen Geiseln wieder Hoffnung

Seit zwei Jahren kämpfen die Angehörigen der israelischen Geiseln um das Leben ihrer Liebsten. Dass sie nun wieder zuversichtlich sein können, hat auch mit Donald Trump zu tun.

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Seit zwei Jahren warten Ruby und Hagit Chen auf ihren verlorenen Sohn. Zwei Jahre voller Schmerz, voller Sehnsucht und Verzweiflung. Jetzt aber, schreibt Ruby Chen in einer Textnachricht, seien er und seine Frau „mit vorsichtigem Optimismus schlafen gegangen“, zum ersten Mal seit Langem.

Ruby Chen, Vater des entführten Deutsch-Israelis Itay Chen, wählt seine Worte wie jemand, der weiß, wie sehr Hoffnung schmerzen kann, wenn sie immer wieder enttäuscht wird. Und doch: Seitdem US-Präsident Donald Trump vergangene Woche seinen Plan zur Beendung des Gazakrieges vorgestellt hat, wagen er und seine Frau es wieder, zu hoffen.

20 Geiseln sollen noch am Leben sein

Denn der 20-Punkte-Plan des US-Präsidenten könnte die beste Chance seit Monaten, vielleicht seit Kriegsbeginn bieten, die letzten israelischen Geiseln zu befreien. 48 Entführte hält die Hamas noch in ihrer Gewalt, nur noch 20 von ihnen sollen israelischen Informationen zufolge am Leben sein.

Itay Chen ist eine von sieben Geiseln mit deutscher Staatsangehörigkeit. Kurz vor dem zweiten Jahrestag der Massaker und Entführungen vom 7. Oktober sitzen die Familien der deutschen Geiseln in einem Tagungsraum in Berlin, weit entfernt von den Tunneln unter Gaza, in denen die Hamas ihre Söhne festhält. Die Familien sind nach Deutschland gereist, um in Medienhäusern und Bundestagsbüros darum zu kämpfen, dass die Welt sie nicht vergisst.

Ruby (links) und Hagit Chen verlangen von Israels Premier Benjamin Netanjahu, jetzt endlich die Geiseln zurückzuholen.

© KATHARINA KUNERT

Der Blick von Itay Chens Mutter Hagit ist entschlossen, in ihrer Stimme aber liegt die Müdigkeit von zwei Jahren. Sie habe die Hoffnung nie aufgegeben, sagt sie. Nicht, als andere Geiseln nach Hause zurückkehrten und Itays Name nicht auf der Liste stand. Nicht, als Israels Armee ihn im März 2024 für tot erklärte.

„Ich kämpfe weiter“, sagt sie. „Für mich ist er nicht tot. Wir haben keine Gewissheit. Ich lasse nicht zu, dass man ihn als Leiche abstempelt oder Gaza zu seiner letzten Ruhestätte erklärt. Egal, wie es um ihn steht: Ich hole ihn zurück.“ Von einem Bild auf ihrem T-Shirt blickt ihr Sohn, jung, breit lächelnd, unbeschwert.

„Unsere Hoffnung ist Donald Trump“, sagt Itays Vater Ruby Chen. „Nun ist es an Premierminister Benjamin Netanjahu, die gleiche Entschlossenheit zu zeigen und dem israelischen Verhandlungsteam das Mandat zu erteilen, das Abkommen zu besiegeln.“

Trumps 20-Punkte-Plan sieht unter anderem vor, dass die Hamas sämtliche verbliebenen Geiseln freilässt, ihre Waffen abgibt und künftig keine Rolle mehr in der Regierung des Gazastreifens spielt.

Israel wiederum soll seine Truppen schrittweise aus Gaza abziehen, außerdem 250 palästinensische Häftlinge aus Gefängnissen entlassen, die zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt wurden, und weitere 1700 seit Kriegsbeginn in Gaza festgenommene Palästinenser freilassen.

Für mich ist er nicht tot.

Hagit Chen über ihren Sohn Itay, der noch in Gefangenschaft der Hamas ist.

Noch zweifeln viele daran, dass die Terrorgruppe ihrer eigenen Entmachtung zustimmen könnte. Und tatsächlich: Die Antwort der Hamas auf Trumps Forderungen gleicht bislang eher einem „Jein.“

In einer Stellungnahme erklärte sich die Gruppe bereit, alle Geiseln freizulassen – doch nur, falls bestimmte, nicht weiter ausgeführte Bedingungen für einen Austausch vor Ort erfüllt würden. Zudem beschrieb die Hamas sich als Teil einer „palästinensischen nationalen Struktur“, zu der sie beitragen werde – eine Formulierung, die nahelegt, dass die Hamas an einer zukünftigen Regierung über Gaza beteiligt sein will.

Dass sie innerhalb von 72 Stunden sämtliche Geiseln übergeben könnte, wie es der US-Plan vorsieht, scheint in jedem Fall unwahrscheinlich: Die Hamas selbst hatte schon in der Vergangenheit angegeben, sie wisse nicht, wo in Gaza sich einige der Geisel-Leichen befänden.

Nach eigenen Angaben bereitet Israel nun die „Umsetzung der ersten Phase von Trumps Plan zur unverzüglichen Freilassung aller Geiseln vor“, wie es aus dem Büro von Premierminister Benjamin Netanjahu heißt. In den kommenden Tagen sollen Israel und die Hamas mithilfe internationaler Vermittler über letzte Details verhandeln.

Für die Angehörigen ist die Ungewissheit schwer zu ertragen. Immer wieder hatte es in den vergangenen Monaten Gerüchte um eine vermeintlich bevorstehende Einigung gegeben. Immer wieder erwiesen sie sich als haltlos.

Kobi (links) und Idit Ohel mussten sich ein grauenhaftes Video von ihrem Sohn Alon in Gefangenschaft angucken.

© KATHARINA KUNERT

„Wir haben keine Zeit für ein Hin und Her“, sagen die Eltern des entführten Alon Ohel. „Jeder Tag, der vergeht, ist für Alon einer zu viel.“ Auch Idit und Kobi Ohel sind Ende September nach Berlin gereist, um die Erinnerung an ihren Sohn wachzuhalten.

Alons Schicksal bewegt viele in Deutschland – auch wegen eines Propaganda-Videos, das die Hamas vor wenigen Wochen veröffentlichte. Abgemagert erscheint er darin, mit Schatten unter den Augen, die braunen Locken abgeschoren.

„Seine Augen“, dachte seine Mutter, als sie das Video zum ersten Mal sah, „die sehen nicht aus wie Alons.“ Auf einer Seite hat er offenbar die Sehkraft verloren – wohl durch unbehandelte Verletzungen, die Hamas-Terroristen ihm am 7. Oktober zufügten.

Nach Berichten ehemaliger Geiseln sitzt er in einem feuchten Tunnel unter Gaza fest, angekettet, ohne Matratze, mit kaum mehr als einem Stück Brot am Tag. Wie viel Kraft der Körper des 24-Jährigen nach zwei Jahren Gefangenschaft noch hat – darum bangt seine Familie jeden Tag.

Alon besitzt ebenfalls die deutsche Staatsbürgerschaft. „Das dürfen die Menschen in Deutschland nicht vergessen“, sagt seine Mutter. „Er ist einer von ihnen. Er braucht ihre Hilfe.“

Idit Ohel schaut immer wieder auf das Video auf ihrem Handy, kneift die Augen zusammen, tippt auf den Bildschirm. „Da sieht es so aus, als fehlen ihm Zähne. Haben die Terroristen sie Alon ausgeschlagen?“, fragt sie, mehr zu sich selbst.

Als sie und ihr Mann das Video zum ersten Mal sahen, sei es kaum auszuhalten gewesen. Inzwischen aber sehen sie es so: „Es ist ein Lebenszeichen. Und allein das zählt. Alon kommt zurück – und zwar lebendig.“

Die Angehörigen der Geiseln sind zu Medienprofis geworden

Im Laufe der letzten zwei Jahre sind die Familien der Geiseln zu Medienprofis geworden, wenngleich wider Willen. Sie geben Interviews, sprechen auf Demonstrationen, treten im Fernsehen auf, reisen in andere Länder. Sie treffen Politiker und Journalisten, Diplomaten, Prominente und den Papst; jeden, von dem sie hoffen, dass er irgendetwas beitragen könnte zur Befreiung ihrer Liebsten.

Psychologische Hilfe nehmen beide Familien, die Chens und die Ohels, schon seit Monaten nicht mehr in Anspruch. „Wir haben es ausprobiert, aber niemand versteht uns, nicht einmal Psychologen“, sagen die Eltern Itay Chens. Das Einzige, was ihnen helfe, sei der Gedanke, abends ins Bett zu gehen und zu wissen, dass sie sich für ihren entführten Sohn starkgemacht haben.

Am Jahrestag des 7. Oktober planen beide Familien, auf Zeremonien und Demonstrationen zu verzichten. Sie wollen einfach beisammen sein – ohne Reden, ohne Parolen, ohne Politiker.

„Wir machen das, was Itay liebt, so als wäre er da“, sagt seine Mutter Hagit Chen. „Wir gehen in sein Lieblings-Burgerrestaurant. Und in die Kletterhalle, wo er ständig war, obwohl ich Klettern hasse. Aber ich will seine Anwesenheit spüren – als wäre er schon wieder bei uns.“

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