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Ab in die Feiertage. Viele Türkinnen und Türken beenden vorerst ihre Proteste.

© REUTERS/Umit Bektas

Ende der Mahnwachen und Massenproteste: War es das mit dem Aufstand gegen Erdogan?

Mehr als eine Woche lang erschütterten Massenproteste gegen die Regierung das Land. Die Opposition plant neue Demonstrationen. Doch es ist fraglich, ob sie den Druck auf Erdogan aufrechterhalten kann.

Stand:

Mit Handschlag verabschiedete sich Özgür Özel von den Angestellten im Rathaus von Istanbul, als er am Mittwochabend seine Mahnwache beendete.

Eine Woche lang hatte der türkische Oppositionschef auf einem Sofa im Amtssitz des abgesetzten Oberbürgermeisters Ekrem Imamoglu übernachtet, um das Rathaus symbolisch gegen eine Übernahme durch die Regierung von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan zu bewachen; nun zog er aus. Auch die täglichen Massenproteste sind erst einmal vorbei.

Erdogan setzte Zeichen der Entspannung, indem er inhaftierte Journalisten freiließ und auf einen staatlichen Zwangsverwalter im Rathaus von Istanbul verzichtete: Imamoglus Partei CHP konnte im Stadtrat mit ihrer Mehrheit den Lokalpolitiker Nuri Aslan zum geschäftsführenden Verwaltungschef wählen.

Das bedeutet, dass die bei Weitem größte Stadt der Türkei trotz Imamoglus Verhaftung erst einmal unter Kontrolle der Opposition bleibt.

Die CHP-Führung erklärte Imamoglu am Donnerstag formell zu ihrem Präsidentschaftskandidaten. Der abgesetzte Bürgermeister hätte laut Umfragen gute Chancen, Erdogan bei der nächsten Präsidentschaftswahl 2028 zu schlagen; die CHP wirft der regierungstreuen Justiz vor, sie habe Imamoglu in Untersuchungshaft gesteckt, um seine Kandidatur zu verhindern.

Die größten Proteste seit Jahren

Millionen Türken in allen Landesteilen hatten nach Imamoglus Festnahme durch die Polizei am 19. März eine Woche lang gegen die Willkür der Regierung protestiert – es waren die größten Kundgebungen gegen Erdogan seit den Gezi-Unruhen von 2013. Knapp 1900 Menschen wurden nach Regierungsangaben bei den Protesten festgenommen.

Für die kommenden Tage plant die Opposition neue Demonstrationen. Imamoglu rief die Türken aus der Untersuchungshaft heraus über die sozialen Medien zur Teilnahme an einer CHP-Kundgebung an diesem Samstag in Istanbul auf.

Istanbuls abgesetzter und verhafteter Bürgermeister Ekrem Imamoglu gilt als Erdogans gefährlichster Widersacher.

© REUTERS/DILARA SENKAYA

Die CHP wird es aber schwer haben, den Druck auf Erdogan aufrechtzuerhalten.

Viele Türken machen ab dem Wochenende erst einmal Ferien: Die Feiertage zum Ende des Ramadan stehen bevor, und Erdogan gab den Türken per Dekret ab Samstag bis zum 7. April frei. Millionen Türken werden mit Auto, Bus oder Flugzeug zu einem Kurzurlaub an den Stränden oder zu Verwandtenbesuchen aufbrechen.

Erdogan will die Lage beruhigen

Er wolle den Bürgern mit den verlängerten Feiertagen die Gelegenheit geben, mehr Zeit mit der Familie zu verbringen, erklärte Erdogan. Uneigennützig ist seine Anordnung jedoch nicht.

Der Präsident wolle nach dem Massenprotest der vergangenen zehn Tage die Lage im Land beruhigen, kommentierte die Wirtschafts-Internetseite „Paraanaliz“. Die Regierung möchte besonders die Studierenden vorerst loswerden, die bei den Demonstrationen vorneweg waren.

Auch Türkei-Experte Soner Cagaptay von der Denkfabrik Washington Institute sieht politisches Kalkül hinter Erdogans jüngsten Entscheidungen. Besonders der Verzicht des Präsidenten auf Ernennung eines Zwangsverwalters für Istanbul sei ein deutliches Zeichen der Deeskalation, sagt Cagaptay dem Tagesspiegel.

Erdogan ist von der Wucht der Massenproteste überrascht worden. Er versucht, den Geist wieder in die Flasche zurückzustopfen.

Soner Cagaptay, Türkei-Experte an der Denkfabrik Washington Institute

Dass Imamoglu wegen des Vorwurfes der Korruption verhaftet wurde, nicht aber wegen des Verdachts auf Zusammenarbeit mit der Terrorgruppe PKK, zeigt aus Cagaptays Sicht ebenfalls das vorsichtigere Vorgehen des Präsidenten.

Ein Haftbefehl gegen den Bürgermeister wegen Terrorverdacht hätte zwangsläufig die Ernennung eines Zwangsverwalters nach sich gezogen. Dies wiederum hätte die Wut der Demonstranten noch weiter angeheizt.

Erdogan setzt Zeichen der Entspannung; vom Ausmaß der Proteste wurde er wohl überrascht.

© imago/Depo Photos/IMAGO/Depo Ohotos

Erdogan sei von der Wucht der Massenproteste überrascht worden, glaubt Cagaptay: „Er versucht, den Geist wieder in die Flasche zurückzustopfen.“ Allerdings bedeute das nicht, dass Erdogan seinem Herausforderer Imamoglu eine Präsidentschaftskandidatur erlauben werde.

Cagaptay vermutet, dass der Präsident die CHP dazu bringen will, Imamoglu fallen zu lassen. Der Staatschef trete zwar jetzt erst einmal auf die Bremse, doch neue Eskalationen der Regierung wie eine Terroranklage gegen Imamoglu seien möglich, wenn die Opposition an dem Erdogan-Rivalen festhalte.

Kritik aus dem Ausland unerwünscht

Kritik aus dem Ausland an der Verhaftung des beliebtesten Oppositionspolitikers des Landes weist Erdogans Regierung zurück. Die Justiz der Türkei sei unparteiisch und unabhängig, sagte Justizminister Yilmaz Tunc am Donnerstag vor der Auslandspresse in Istanbul.

Leider seien einige Stellungnahmen aus der internationalen Öffentlichkeit zu den Ermittlungen voreingenommen. Er nannte es unverantwortlich, Erdogan mit den Ermittlungen gegen seinen Rivalen Imamoglu in Verbindung bringen zu wollen.

Besonders Europa solle sich mit Kritik zurückhalten, sagte Minister Tunc. Die EU hatte die Türkei aufgerufen, im Umgang mit der Opposition „demokratische Normen und Praktiken“ einzuhalten.

Brüssel wirft der türkischen Regierung einen undemokratischen Einfluss auf die Justiz vor, weil Ankara die Ernennung und Versetzung von Richtern und Staatsanwälten kontrolliert.

Kurz nach der Stellungnahme von Minister Tunc wurde bekannt, dass die türkischen Behörden den BBC-Journalisten Mark Lowen, der für die Berichterstattung nach Istanbul gekommen war, aus dem Land geworfen haben. Dieser gefährde die öffentliche Ordnung, hieß es zur Begründung.

Die türkische Rundfunkaufsichtsbehörde belegte mehrere oppositionelle Fernsehsender mit Geldstrafen und mehrtägigen Sendeverboten, weil sie über die Proteste berichtet hatten.

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