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Erdogan setzt Verwalter bei Oppositionspartei ein: „Der autoritäre Staatsumbau hat sich durchgesetzt“
Trotz großer Proteste führt der türkische Präsident seinen Kampf gegen die Opposition fort. In Istanbul scheint sie nun völlig entmachtet. Weitere Aktionen dürften folgen.
Stand:
„Sind wir hier etwa in Gaza?“, schrie Gökan Zeybek die Polizisten an. Der stellvertretende Vorsitzende der türkischen Oppositionspartei CHP stand am Montag mit Hunderten anderen Mitgliedern seiner Partei vor einem Polizeikordon, der die Istanbuler Zentrale der Partei abgeriegelt hatte.
Zeybek und die anderen wollten das Gebäude besetzen, um zu verhindern, dass ein gerichtlich bestellter Verwalter die Istanbuler CHP übernimmt. Doch trotz der wütenden Proteste erschien Verwalter Gürsel Tekin am Montag vor der Parteizentrale, um sein Amt anzutreten – ganz wie Präsident Recep Tayyip Erdogan es geplant hatte.
Tekin ist ein altgedienter CHP-Funktionär, der schon lange mit der Parteiführung im Streit liegt. Viele sehen ihn als eine Art Judas, der die Partei verraten hat, um sich selbst ein mächtiges Amt zu verschaffen. „Gürsel hat sich verkauft“, rief die Protestmenge am Montag.
Die EU und europäische Nachbarstaaten sollten nicht tatenlos zusehen.
Hüseyin Cicek, Türkei-Experte an der Universität Wien
Als Tekin vor der Parteizentrale eintraf, wurde er mit Buh-Rufen und Flaschenwürfen empfangen. Er sei gekommen, um die Probleme der Partei zu lösen, sagte Tekin in die Kameras türkischer Fernsehsender.
Den Weg ins Gebäude ließ er sich von Polizisten freiräumen. Fernsehbilder zeigten ein Handgemenge zwischen den Beamten und Demonstranten. Die Polizei setzte beim Vormarsch in das Hauptquartier Tränengas ein. Tekin betonte dennoch, auch seine Gegner in der Partei seien seine „Brüder“.
Regierungstreue Richter führen seit Monaten einen juristischen Kampf gegen die größte Oppositionspartei des Landes. Sie haben den Istanbuler Bürgermeister und CHP-Präsidentschaftskandidaten Ekrem Imamoglu und Dutzende andere Politiker einsperren und absetzen lassen.
Vorige Woche war Özgür Celik an der Reihe, der bisherige Parteichef in Istanbul. Celik wurde von einem Gericht wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten bei seiner Wahl auf einem Parteitag vor zwei Jahren aus dem Amt entfernt. Zum Verwalter der Partei in der Metropole ernannte das Gericht schließlich Gürsel Tekin.
Als Tekin am Montag sagte, er wolle die Spaltung der Partei verhindern, klang das für die meisten Mitglieder wie Hohn. Genau wie die Begründung der Erdogan-Regierung für den Polizeieinsatz vor der Zentrale: Die Beamten sollten lediglich sicherstellen, dass der Gerichtsbeschluss zur Neubesetzung der Istanbuler CHP-Spitze umgesetzt werde, erklärte Innenminister Ali Yerlikaya. Aufrufe zu Protesten seien ein Versuch, die öffentliche Ordnung zu stören, was nicht hingenommen werde.

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Der von Erdogan ernannte Gouverneur von Istanbul erließ ein mehrtägiges Demonstrationsverbot. Die türkische Internetbehörde drosselte den Zugang zu sozialen Medien, um die Kommunikation der Demonstranten untereinander zu erschweren. Regierungsnahe Medien verbreiteten das Gerücht, die Proteste würden von ausländischen Geheimdiensten gelenkt.
Die bisherige CHP-Führung in Istanbul versuchte, Tekins Amtsübernahme ins Leere laufen zu lassen: Sie erklärte das Hauptquartier für geschlossen und verkündete, sie verlege die Parteizentrale an einen anderen Ort. Ob das viel bringt, ist aber fraglich.
Das ist ein Angriff auf die politische Pluralität des Landes.
Hüseyin Cicek, Türkei-Experte an der Universität Wien und an der Sigmund-Freud-Privatuniversität in der österreichischen Hauptstadt, wertet die Ereignisse vom Montag als Wendepunkt in der türkischen Politik. „Die Abriegelung der Parteizentrale, Demonstrationsverbote und digitale Einschränkungen zeigen, dass hier keine parteiinterne Streitigkeit vorliegt, sondern vielmehr ein Angriff auf die politische Pluralität des Landes“, sagte Cicek dem Tagesspiegel.
Die Szenen in Istanbul dürften ein Vorgeschmack auf die kommende Woche gewesen sein, wenn ein Gericht in Ankara entscheidet, ob auch der Parteivorsitzende Özgür Özel aus dem Amt entfernt wird.
Auch ihm wird vorgeworfen, sich seinen Posten vor zwei Jahren bei einem Parteitag mit illegalen Tricks erschlichen zu haben, und auch hier steht nach Medienberichten bereits ein Erdogan-genehmer Ersatzmann bereit: Kemal Kilicdaroglu, ehemaliger Chef der CHP, der bei dem Parteitag 2023 abgewählt worden war.
Sollte Özel am 15. September per Gericht abgesetzt werden, hätte die größte Oppositionspartei des Landes ihre Unabhängigkeit verloren. Die CHP hatte Erdogans Partei AKP bei den Kommunalwahlen des vergangenen Jahres als stärkste politische Kraft der Türkei abgelöst und hätte derzeit laut Umfragen die Chance, Erdogan bei der nächsten Wahl zu schlagen. Das ist nach Meinung von Kritikern der Grund, warum der türkische Präsident die Justiz auf die Partei angesetzt hat.
Erdogan „schafft sich eine loyale Opposition, indem er die Führungsetage der CHP ernennt“, sagt Timur Kuran, Türkei-Experte an der Duke-Universität in den USA. „Erdogan vollendet damit seine Diktatur“, schrieb Kuran auf der Plattform X.
Cicek sieht es ähnlich. „Ob sich die Opposition behaupten kann, ist fraglich – es scheint, dass sich der autoritäre Staatsumbau im Sinne Erdogans endgültig durchgesetzt hat“, sagte er. „Die EU und europäischen Nachbarstaaten sollten nicht tatenlos zusehen.“
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