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Flüchtlingskrise im Sudan: „Ich war noch nie so erschüttert wie nach dieser Reise“
Seit dem Ausbruch des Bürgerkrieges sind rund zwölf Millionen Menschen heimatlos geworden. 800.000 von ihnen flohen in das Nachbarland Tschad. Eine UN-Expertin berichtet über die Lage vor Ort.
Stand:
Frau Menikdiwela, in der vergangenen Woche waren Sie im Tschad. Das zentralafrikanische Nachbarland hat in kurzer Zeit mehr als 800.000 Flüchtlinge aufgenommen. Wie ist die Lage vor Ort?
Was ich dort gesehen habe, ist einfach unfassbar. Die Menschen, die aus dem Sudan in den Osten Tschads fliehen, kommen seit April 2023, als der Bürgerkrieg zwischen den Regierungstruppen (SAF) und der paramilitärischen Bewegung (RSF) begann. Seit dem Frühling dieses Jahres sind es aber deutlich mehr Menschen geworden – wegen der Kämpfe im westsudanesischen Darfur. Ich war im Transitzentrum an der Grenze und habe dort mit einigen der Neuankömmlinge gesprochen:
Sie liefen einfach mit Schuss- und Granatsplitterwunden herum, als wäre es etwas Alltägliches. Ein junges Mädchen erzählte mir, ihr Bruder sei vor ihren Augen erschossen worden. Sie musste über seine Leiche hinwegsteigen, um aus ihrem Haus fliehen zu können. Sie erzählte von ihren Erlebnissen in nüchternem Ton, als seien sie vollkommen normal. Ich habe in meiner Laufbahn sehr viel Leid gesehen. Aber in mehr als 35 Jahren im humanitären Sektor und Flüchtlingsschutz für die Vereinten Nationen war ich noch nie so erschüttert wie nach dieser Reise.
Es häufen sich auch Berichte von sexualisierter Gewalt. Können Sie das bestätigen?
Ja! Ich sprach mit einer 80-jährigen Frau, die wiederholt vergewaltigt worden war. Und sie ist kein Einzelfall. Die meisten jungen Frauen und Mädchen, die ich traf, sind vergewaltigt, sexuell missbraucht oder anderweitig Opfer von Gewalt geworden. Um die Dimension klarzumachen: 80 Prozent der Menschen, die derzeit aus dem Sudan nach Tschad fliehen, sind Frauen und Kinder. Und von diesen 80 Prozent haben 70 Prozent irgendeine Form sexualisierter Gewalt erlebt.
Vergewaltigungen werden gezielt als Kriegswaffe eingesetzt. Es ist eine Strategie der Kriegsparteien. Und auf dem Weg in den Tschad werden die Fliehenden erneut misshandelt – von bewaffneten Gruppen, die die jeweiligen Regionen kontrollieren.
Die Geflüchteten sind nun in großen Lagern im Osten Tschads untergebracht. Sind sie dort in Sicherheit?
Sie sind nicht mehr in einer Kriegszone. Aber in den Lagern breitet sich zurzeit eine Cholera-Epidemie aus. Um sie einzudämmen, wurden und werden aber Einrichtungen aufgebaut. Zum Beispiel durch Ärzte ohne Grenzen (MSF). Zur Epidemie kommt noch hinzu, dass mindestens die Hälfte der Neuankömmlinge im Tschad keine Unterkunft erhält – und deswegen unter Bäumen oder unter provisorischen Laken leben muss. Obwohl im Tschad zurzeit Regenzeit ist und tropische Stürme wüten.
Vergewaltigungen werden gezielt als Kriegswaffe eingesetzt. Es ist eine Strategie der Kriegsparteien.
Ruvendrini Menikdiwela, Spitzenvertreterin des UN-Flüchtlingskommissariats, UNHCR
Die nötige Unterstützung fehlt aber nicht, weil Tschad nicht helfen möchte. Die Tschader würden den Flüchtlingen gerne unter die Arme greifen, verfügen jedoch nicht über die Mittel, die sie dafür bräuchten. Trotzdem tun sie, was sie können, obwohl die aufnehmenden Gemeinden praktisch keine Krankenhäuser, kaum Trinkwasser, keine Schulen haben.

© imago/Le Pictorium/Adrien Vautier
Warum hält der Tschad dann die Grenzen für die Menschen aus dem Sudan offen, wenn er sie nicht adäquat unterstützen kann?
Im Tschad gibt es eine andere Denkweise als in Europa. Dort sagt man: „In Afrika gibt es keine Fremden. Jeder ist ein Bruder oder ein Freund.“ Selbst wenn ständig Kämpfe stattfinden und Geflüchtete hin- und herziehen, bleiben die Grenzen offen.
Kaum einer weiß von den Millionen Vertriebenen, die in ihre Nachbarländer fliehen. Aber wenn ein paar Hundert afrikanische Flüchtlinge ein Boot nehmen, das Mittelmeer überqueren und nach Europa gelangen, ist es sofort in allen Nachrichten.
Ruvendrini Menikdiwela, Spitzenvertreterin des UN-Flüchtlingskommissariats, UNHCR
Die meisten der weltweit 43 Millionen Flüchtlinge bleiben in ihrem Land als Binnenvertriebene oder fliehen in andere arme Länder, einfach über die nächste Grenze in das Nachbarland. Hauptsache in Sicherheit. Auch im Sudan ist das so. Von den insgesamt rund zwölf Millionen Menschen, die ihr Zuhause wegen des Bürgerkriegs verlassen mussten, sind acht Millionen an andere Orte innerhalb des Sudans geflohen. Die restlichen vier Millionen haben den Sudan Richtung Nachbarstaaten verlassen, darunter den Tschad.

© Quelle: UNHCR | Grafik: Tsp/Bartel
Die Zahl derer, die es nach Europa oder Nordamerika schaffen, ist dagegen winzig. Kaum einer weiß von den Millionen Vertriebenen, die in ihre Nachbarländer fliehen. Aber wenn ein paar Hundert afrikanische Flüchtlinge ein Boot nehmen, das Mittelmeer überqueren und nach Europa gelangen, ist es sofort in allen Nachrichten.
Wie kann die internationale Gemeinschaft diesen Menschen helfen?
Durch Geld und die Möglichkeit, langfristig unabhängig zu werden, statt auf unsere Hilfszahlungen angewiesen zu sein. Es würde reichen, den Menschen nur das Nötigste zu geben. Das, was sie brauchen, keine Luxusgüter: ein Dach über dem Kopf, Essen, Zugang zu medizinischer Behandlung, einen Platz für ihre Kinder in der Schule und eine Einkommensquelle, um unabhängig zu werden.
Damit werden und sollen sie nicht über 20 Jahre hinweg humanitäre Hilfe erhalten. Stattdessen ermöglicht die Infrastruktur von Schulen, Krankenhäusern und Ackerland ihnen die Chance, selbst Dienstleistungen bereitzustellen und eine Wirtschaft zu beginnen. So könnten wir die Geflüchteten weniger von internationaler humanitärer Hilfe abhängig machen.
Ihr Plan wirkt einfach: Wieso wird er nicht genau so umgesetzt?
Ich habe im Tschad mit dem Landesdirektor der Weltbank gesprochen. Er sagte: „Wir haben das Geld, wir sind bereit. Aber wir warten auf die Behörden.“ Und diese warten auf ihre Regierungen. Dieser Prozess kann sehr lange dauern, wegen der Bürokratie, den vielen Formalitäten.
Doch ich sehe nicht, dass der Prozess jetzt beschleunigt werden wird. Nicht nur die USA, fast alle unserer größten Geber kürzen ihre Entwicklungshilfe-Budgets. Denn der globale Norden hat wenig Interesse für den Sudan. Einerseits, weil die Flüchtlinge Sudans vorerst auf dem afrikanischen Kontinent bleiben. Andererseits, so begründen es vor allem Europäer, weil höhere Budgets für Verteidigung benötigt werden. Für mich ist klar: Der Sudan ist eine vergessene Krise.
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