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Der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger hofft auf eine unabhängige Ukraine.

© Reuters/Jaime R. Carrero

Kissinger plädiert im Ukraine-Krieg erneut für Verhandlungen: Der Blick für das Machbare bleibt wichtig

Die Äußerungen des ehemaligen US-Außenministers erzürnen nicht nur die Regierung in Kiew. Seine Ideen sind unausgegoren. Dass er welche hat, unterscheidet ihn aber von vielen anderen.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Eine Hoffnung ist keine Prognose, ein Wunsch keine Vorhersage. Jeder anständige Mensch hofft, dass die Ukraine den Krieg gewinnt. Dass sie ihre Souveränität und territoriale Integrität wieder herstellt. Dass der russische Aggressor vernichtend geschlagen und aus den besetzten Gebieten vertrieben wird. Dass Wladimir Putin gestürzt und vor einen internationalen Gerichtshof gebracht wird. Wer diesen Wunsch nicht teilt, versündigt sich an den Grundwerten von Moral, Recht und Gerechtigkeit.

Wie wahrscheinlich ist dieses Szenario? Der amerikanische Generalstabschef Mark Milley ist skeptisch. Er und andere Strategen diagnostizieren einen Abnutzungskrieg. Seit ungefähr einem Monat kann keine der beiden Seiten entlang der 1000 Kilometer langen Gefechtsstrecke substanzielle Geländegewinne erzielen. Die Hauptleidtragenden sind die Ukrainer.

Es ist ihre Infrastruktur, die bombardiert wird, ihre Bevölkerung, die friert und fliehen muss, es sind ihre Städte und Dörfer, in die Russland feuert. Je länger der Krieg dauert, desto härter wirkt sich dieses Ungleichgewicht aus. Russland verliert Soldaten, die Ukraine aber verliert außerdem Kinder und Frauen, Häuser und Industrien.

Per Video beim Weltwirtschaftsforum in Davos

Henry Kissinger, die Inkarnation der Realpolitik, hat jetzt erneut für Verhandlungen plädiert. Deren Ziel solle in der Wiederherstellung des Status quo ante bestehen, sagte er per Video beim Weltwirtschaftsforum in Davos. Russland behielte demnach die Krim und Teile der bereits 2014 annektierten Provinzen Donezk und Luhansk. Im Gegenzug solle die Ukraine in die Nato aufgenommen werden. Einen neutralen Status des Landes halte er für nicht länger sinnvoll. Sein Vorschlag lässt sich auf die Formel Land gegen Sicherheit bringen.

Im Mai vergangenen Jahres hatte Kissinger für eine ähnliche Position geworben und von der Ukraine territoriale Zugeständnisse verlangt. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wies diese Vorschläge scharf zurück. „Man hat den Eindruck, dass Herr Kissinger nicht das Jahr 2022 auf seinem Kalender stehen hat, sondern das Jahr 1938 und dass er glaubt, er spreche nicht in Davos, sondern in München zu einem Publikum von damals“, sagte Selenskyj.

Appeasement – so lautete der Vorwurf an die Adresse Kissingers. 1938 hatten Frankreich, Großbritannien, Italien und Deutschland in München ein Abkommen geschlossen, das Adolf Hitler in der damaligen Tschechoslowakei Land zusprach, um ihn dadurch zum Verzicht auf weitere Gebietseroberungen zu bewegen. Nach wie vor besteht die Regierung in Kiew auf einer kompletten Wiederherstellung der ukrainischen territorialen Integrität.

Es ist leicht, Kissingers Vorschlag in der Luft zu zerreißen

In dieser Frage hat Selenskyj seine ursprüngliche Haltung revidiert. Ende März hatte er gesagt: „Wir verstehen, dass es unmöglich ist, den Donbass vollständig zu befreien.“ Eine Rückeroberung würde „den Dritten Weltkrieg“ auslösen. Eine Neutralität seines Landes werde gründlich geprüft.

Es ist leicht, Kissingers Vorschlag in der Luft zu zerreißen. Eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine in Verhandlungen mit Russland durchzusetzen, ist vollkommen illusorisch. Ebenso schwer fällt es, sich einen künftigen Platz Russlands in der internationalen Gemeinschaft vorzustellen. Die Wunden, die Putins Aggressionskrieg geschlagen hat, sitzen zu tief.

Vom heimischen Sofa aus verbieten sich Kapitulationsempfehlungen

Deshalb indes die Appeasement-Keule zu schwingen, ohne realistische Alternativen anbieten zu können, zementiert den Weg, der bei fortgesetztem Leid schnurstracks in die Sackgasse führt. Ein ums andere Mal versichern westliche Repräsentanten, der Ukraine nicht vorschreiben zu wollen, wofür und wie lange ihre Soldaten zu kämpfen haben. Die finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin sagte in Davos, allein die Ukraine habe über die Aufnahme von Verhandlungen zu entscheiden.

Das klingt zunächst nobel. Vom bequemen heimischen Sofa aus verbieten sich Kapitulationsempfehlungen ebenso wie Anfeuerungsrufe. Klar ist aber auch, dass der Westen – allen voran die USA – aufgrund seiner massiven Unterstützung der Ukraine durch Waffen, Gelder und Geheimdienstinformationen nicht zum Zuschauen verdammt ist. Wer zahlt, darf mitreden.

Es gibt gute Gründe, Verhandlungen zum jetzigen Zeitpunkt für verfrüht zu halten. Es gibt auch gute Gründe, sie nicht kategorisch auszuschließen, bevor nicht alle von Russland besetzten Gebiete befreit wurden. Sich in der Debatte darüber nur von Wünschen leiten zu lassen, aber das Machbare aus dem Blick zu verlieren, wäre für alle Seiten fatal.

Kissingers Ideen sind unausgegoren, um es vorsichtig auszudrücken. Dass er welche hat und sie öffentlich zur Diskussion stellt, unterscheidet ihn von vielen anderen, die Hoffnungen hegen, ohne plausibel machen zu können, wie aus ihnen Wirklichkeit wird.

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