zum Hauptinhalt
Hunderttausende Palästinenser machen sich seit Beginn der Waffenruhe auf den Weg zurück in die Heimat – doch davon steht meist nicht mehr viel.

© IMAGO/Anadolu Agency/IMAGO/Moiz Salhi

In Gaza gibt es wieder Hoffnung: „Jeder einzelne Palästinenser versucht, zu überleben“

Trümmer, Hunger, Traumata: Nach zwei Jahren Krieg keimt in Gaza Zuversicht, seitdem die Waffen schweigen. Doch Leid und Not finden noch immer kein Ende.

Stand:

Seit einigen Tagen regt sich in Gaza leise Zuversicht. Zwei Jahre Krieg, Zehntausende Tonnen Bomben und laut palästinensischen Angaben 68.000 Tote scheinen daran wenig geändert zu haben.

„Es gibt Hoffnung, ohne Zweifel“, sagt James Elder, Sprecher des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen Unicef, dem Tagesspiegel. „Die meisten Palästinenser sind unsicher, ob dieser Frieden hält, sie kennen die gebrochenen Versprechen der Vergangenheit. Doch, wenn dir alles genommen wurde, dann bleibt dir nur die Hoffnung.“

Seit dem terroristischen Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und dem Beginn des darauffolgenden Krieges war der Unicef-Sprecher sechsmal im abgeriegelten Küstenstreifen, zuletzt in der vergangenen Woche. „Jedes Mal ist es überwältigend, überall Trümmer zu sehen. Man kann den Schaden, der dort angerichtet worden ist, nicht begreifen.“

Neun von zehn Wohnhäusern zerstört

Doch seit dem Wochenende ruhen in Gaza offiziell die Waffen, ermöglicht durch den von US-Präsident Donald Trump eingebrachten und von Israel sowie der radikal-islamistischen Hamas akzeptierten 20-Punkte-Friedensplan. „Wenn dieser Friede hält“, sagt James Elder, „ist das nur ein Anfang.“

Ein Land in Schutt und Asche: 14 Jahre dürfte es dauern, Gaza von den Kriegstrümmern zu befreien.

© Reuters/Ebrahim Hajjaj

Denn vor den Überlebenden im Gazastreifen liegen enorme Aufgaben: Internationalen Menschenrechtsorganisationen zufolge sind fast zwei Millionen Menschen in den vergangenen zwei Jahren oft mehrfach vertrieben worden, 89 Prozent des Wasser- und Abwassernetzes sind zerstört, mehr als 98 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen nicht mehr existent oder verseucht.

Neun von zehn Wohnhäusern liegen in Schutt und Asche. Die Vereinten Nationen schätzten bereits im Sommer 2024, dass es 14 Jahre dauern würde, Gazas Trümmer aufzuräumen – sollten 100 Lastwagen rund um die Uhr Schutt wegtransportieren.

Viele Vertriebene haben sich in den vergangenen Tagen auf den Weg zurück in ihre Heimatorte gemacht.

© Imago/Anadolu Agency/Doaa Albaz

„Die westliche Welt spricht gern von einer unglaublichen Widerstandsfähigkeit der Palästinenser“, sagt James Elder. „Aber natürlich fällt man als Erwachsener nicht einfach tot um. Das wäre oft aber die mildere Version.“

Der Unicef-Sprecher berichtet auch von einer Gruppe Teenager, die er im vergangenen Jahr getroffen habe. „Einige von ihnen sagten: ‚Wir beten, dass die nächste Rakete unser Zelt trifft.‘ Das ist doch eine entsetzliche Aussage für Jugendliche. Aber das ist der Punkt, an den sie gedrängt wurden.“

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Ein „Krieg gegen Kinder“ sei Israels militärischer Feldzug in Gaza gewesen, das haben sowohl die Vereinten Nationen als auch internationale Hilfsorganisationen über die vergangenen zwei Jahre immer wieder gesagt.

Diese zwei Jahre werden uns alle verfolgen, da wir alle versagt haben, diese Kinder und ihre Zukunft zu schützen.

Ahmad Alhendawi, Regionaldirektor Save the Children

Ihren Angaben zufolge sind in dieser Zeit etwa 20.000 Kinder gestorben – in jeder einzelnen Stunde dieses Krieges wurde demnach mehr als ein Junge oder Mädchen durch israelische Luftangriffe oder deren Folgen getötet.

„Diese zwei Jahre werden uns alle verfolgen, da wir alle versagt haben, diese Kinder und ihre Zukunft zu schützen“, sagte Ahmad Alhendawi, Regionaldirektor von Save the Children, laut einer Pressemitteilung.

Zum Welttag der seelischen Gesundheit vergangene Woche veröffentlichte die Kinderhilfsorganisation eine Reihe von Zeichnungen, die Heranwachsende aus Gaza gemalt haben.

Zeichnungen aus Gaza: Die Kinderhilfsorganisation Save the Children veröffentlichte Anfang Oktober Bilder von palästinenischen Kindern.

© Save the Children

Eines der Bilder zeigt einen völlig zerstörten Spielplatz neben einem brennenden Haus, ein anderes Raketen und Kampfflugzeuge. Doch auch hier blitzt Hoffnung durch: Auf einem Bild träumt die Hauptperson von einem großen Haus, einem Teller voller Essen – und sogar der Schule.

„All das spiegelt sowohl ihre Hoffnungen als auch ihre alltägliche Realität wider“, sagte Alhendawi. „Und zeigt, was sich Kinder in Gaza wünschen: einen Teller Essen, Bildung, Sicherheit und eine Zukunft.“

Von all dem soll es jetzt wieder mehr geben. Dem Friedensplan zufolge soll „umgehend die volle Hilfsleistung in den Gazastreifen geschickt“ werden.

Die Bilder zeigen, was sich „die Kinder in Gaza wünschen“

© Save the Children

Zudem soll die Verteilung der Hilfsgüter „ohne Einmischung beider Parteien über die Vereinten Nationen und ihre Organisationen, den Roten Halbmond sowie andere internationale Institutionen, die in keiner Weise mit einer der beiden Parteien verbunden sind“, erfolgen.

Zuletzt organisierte die umstrittene sogenannte Gaza Humanitarian Foundation als private Stiftung einen Teil der Versorgung. Drei der vier „Versorgungszentren“ sollen Hilfsorganisationen zufolge mittlerweile aber nicht mehr in Betrieb sein. Ein Sprecher der GHF dementierte entsprechende Berichte im englischen „Guardian“.

Hungersnot im Norden Gazas

„Das war ein eklatanter Angriff auf die humanitären Prinzipien“, sagt James Elder von Unicef. „Auch, weil die Menschen bereits unter einer menschengemachten Hungersnot litten und die Lieferung von Nahrungsmitteln in den Gazastreifen immer wieder unterbunden wurde.“

Im August wurde für Teile des abgeriegelten Küstenstreifens offiziell eine Hungersnot ausgerufen, mehr als 150 Kinder sind UN-Angaben zufolge bereits in Gaza verhungert – etwa eins von vier Kindern leidet unter akuter Unterernährung.

„Die Welt scheint vergessen zu haben, dass es noch immer eine Hungersnot gibt“, sagt James Elder.

Die Kinder in Gaza leiden ihm zufolge dadurch an kognitiven Entwicklungs- sowie Wachstumsstörungen. Die Immunsysteme sind nach zwei Jahren Krieg geschwächt. Die Zahl der Menschen mit Unterernährung hat sich zwischen Januar und September dieses Jahres verdoppelt. Auch mit Beginn des Waffenstillstands hungern – und verhungern – Menschen Hilfsorganisationen zufolge.

Trotz Waffenruhe: Im Schnitt sterben in Gaza täglich Kinder an fehlender medizinischer Versorgung oder Unterernährung.

© IMAGO/Hani Alshaer

Die Vereinten Nationen und andere Hilfsorganisationen fordern deshalb, alle Grenzübergänge für humanitäre Hilfe umgehend zu öffnen und sicherzustellen, dass jedes Kind mit dem Nötigsten zum Überleben versorgt wird.

„Wir haben für zwei bis drei Monate Vorrat an therapeutischer Fertignahrung für unterernährte Kinder. Das kommt jetzt überall hin“, sagt James Elder. „Danach müssen wir sicherstellen, dass es genug Nahrung auf den Märkten gibt, sodass die Kinder nicht wieder unter Unterernährung leiden.“

Ich glaube nicht, dass irgendjemand, weder in der Weltgemeinschaft noch unter den Palästinensern selbst, das Ausmaß dieser Katastrophe wirklich begreift.

James Elder, Unicef

All das ist den Vereinten Nationen zufolge eine menschengemachte Krise. „Israel hat die Versorgung mit Hilfsgütern immer wieder eingeschränkt, insbesondere im Norden. Wenn der internationale Druck wuchs, wurden die Beschränkungen etwas gelockert, der Druck ließ nach. Dann wurden die Zügel wieder angezogen“, sagt James Elder.

Nicht alle Grenzübergänge offen

Bisher hat Israel noch nicht alle Grenzübergänge nach Gaza für die Lieferung von humanitärer Hilfe freigegeben, Hilfsorganisationen sehen deshalb auch die Gefahr vermehrter Plünderungen der wenigen Güter, die in den Küstenstreifen gelangen.

„Jeder einzelne Palästinenser, mit dem ich in den vergangenen Monaten gesprochen habe, versucht zu überleben“, sagt James Elder. „Das sagen sie immer wieder: Ich überlebe.“

Der Krieg ist Gott sei Dank vorbei, aber erst, nachdem er alles in uns zerstört hat.

Nesreen Hamad aus Gaza-Stadt

Doch mit dem Waffenstillstand beginnt für viele der zwei Millionen Menschen in Gaza vielleicht die größte Herausforderung: „Psychologen machen sich Sorgen, dass jetzt, wo dieser Überlebensmodus wegfällt, die Menschen endlich etwas durchatmen können, viele von ihnen begreifen, dass sie ihre Familie, ihre Häuser verloren haben, dass sie inmitten von Trümmern sitzen“, sagt der Unicef-Mitarbeiter.

Doch im Küstenstreifen gibt es aktuell wohl nur noch einen ständigen klinischen Psychologen. „Ich glaube nicht, dass irgendjemand, weder in der Weltgemeinschaft noch unter den Palästinensern selbst, das Ausmaß dieser Katastrophe wirklich begreift.“

Zwei Jahre Krieg haben den Küstenstreifen völlig verwüstet. „Der Krieg ist Gott sei Dank vorbei, aber erst, nachdem er alles in uns zerstört hat“, sagt Nesreen Hamad aus Gaza-Stadt der Deutschen Welle. „Er hat Gaza zerstört. Er hat uns psychisch ruiniert. Ich hoffe, dass der Krieg nie wiederkehrt und wir nie wieder Angst erleben müssen.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })