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Kenia auf dem Weg zum Polizeistaat: Wo sind die verschwundenen jungen Männer von Nairobi?
Wer in Kenia den Präsidenten kritisiert, lebt gefährlich. Immer wieder verschwinden vor allem junge Menschen spurlos. Experten erklären, wie es um die Demokratie im Land bestellt ist.
Stand:
Gerald Mwangi konnte seine Verzweiflung nicht verbergen. „Wo ist mein Sohn, Euer Ehren?“, rief der etwa 55 Jahre alte Mann unter Tränen Ende Dezember in einem Gerichtssaal in Nairobi.
Mwangi war in die kenianische Hauptstadt gekommen, um herauszufinden, wo sein 24 Jahre alter Sohn Billy steckt. Der Student war zehn Tage zuvor in einem Friseursalon im Ort Embu von maskierten Männern – vermutlich Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden – entführt worden.
Doch eine Antwort erhielt der Vater bei dem Gerichtstermin nicht. Der vorgeladene Generalinspekteur der kenianischen Polizei war nicht erschienen. Mwangi musste unverrichteter Dinge nach Hause fahren.
Sein emotionaler Auftritt vor Gericht sorgte in Kenia für viel Aufmerksamkeit. Ein Video davon verbreitete sich im Netz, lokale Medien berichteten. Denn der gekidnappte Student ist kein Einzelfall, sondern steht für eine besorgniserregende Entwicklung.
Die Menschenrechtsorganisation „Law Society of Kenya“ zählt 82 Entführungen seit Juni 2024. Es sind vor allem junge Männer, die verschwinden – nachdem sie auf Facebook oder Tiktok die Regierung kritisiert haben.
Alle, die Kritik an der Regierung äußern, laufen Gefahr, verschleppt zu werden.
Bastian Schulz, Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kenia
„Offene Abschreckung“ nennt Bastian Schulz, Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kenia, die Strategie. „Alle, die Kritik an der Regierung äußern, laufen Gefahr, verschleppt zu werden.“
Unter den 55 Millionen Bürgerinnen und Bürgern Kenias geht die Angst um. Wird ihr Land, beliebtes Reiseziel der Deutschen und enger Partner der Bundesrepublik, zum Polizeistaat?

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Lange galt das aufstrebende Land – das Wirtschaftswachstum liegt bei fünf Prozent – als Vorzeigedemokratie in Ostafrika. Doch seit vor einem halben Jahr junge Menschen massenhaft gegen geplante Steuererhöhungen auf die Straße gingen, hat sich das geändert.
Die Proteste haben Präsident William Ruto offenbar nachhaltig in Nervosität versetzt. Mit Tränengas und scharfer Munition ließ er die Polizei dagegen vorgehen – und mit Verhaftungen. Mehr als 50 Menschen wurden im Sommer bei Zusammenstößen mit der Polizei getötet.
Inzwischen seien die Demos abgeflaut, sagt der Historiker Mwongela Kamencu, der zur Protestkultur in Nairobi forscht. „Die Brutalität der Polizei, die Entführungen und Folter von Gefangenen haben Spuren hinterlassen.“ An der Wut auf den Präsidenten habe sich aber nichts geändert.
Die Lebenshaltungskosten sind wahnsinnig. Die Unzufriedenheit ist groß. Die Menschen haben das Gefühl, der Präsident verschaukelt sie.
Mwongela Kamencu, kenianischer Protestforscher
Der versucht sich in Schadensbegrenzung. Die Pläne für Steuererhöhungen hat Ruto vorerst zurückgezogen. Im Dezember versprach er, den Verhaftungen ein Ende zu setzen – nachdem er monatelang behauptet hatte, die Meldungen darüber seien „fake news“.
Passiert ist seither jedoch wenig. Vereinzelt tauchen Entführungsopfer wieder auf, so wie Billy Mwangi, dessen Vater vor Gericht in Tränen ausgebrochen ist.
Von vielen Verschleppten fehlt jede Spur
Der Student war 15 Tage verschwunden. Was genau passiert ist, dazu schweigt er. Er sei „psychisch traumatisiert“, sagte er dem kenianischen Sender NTV nach seiner Heimkehr Anfang Januar. Von vielen anderen fehlt nach wie vor jede Spur.
Nicht nur Normalbürger werden Opfer von Entführungen. Auch den bekannten Cartoonisten Gideon Kibet hat es Ende Dezember getroffen, vor einer Kirche nahe Nairobi, am helllichten Tag.
Zwei Wochen war er gefangen, dann wurde er 300 Kilometer entfernt ausgesetzt. Was ihm genau zugestoßen ist, darüber schweigt auch er.

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Sogar der Sohn von Präsident Rutos Kabinettssekretär Justin Muturi geriet offenbar in die Fänge des Geheimdienstes.
Er habe persönlich bei Ruto intervenieren müssen, um seinen Sohn Leslie freizubekommen, sagte Muturi kürzlich der Presse. Die Legende, wonach der Staatschef nichts mit den Entführungen zu tun habe, scheint damit endgültig hinfällig.
Kirchenvertreter und internationale Partner äußern inzwischen laut Kritik an Ruto. „Der Druck auf ihn ist groß“, sagt Schulz. „Es stellt sich die Frage, ob er sich verkalkuliert hat und es mit der Repression gegen die Bevölkerung übertreibt.“
Der Ex-Präsident fordert zum Widerstand auf
Vor wenigen Tagen hat sich auch der einflussreiche Ex-Präsident Uhuru Kenyatta eingeschaltet und die Jugend zum Widerstand aufgefordert. Rund die Hälfte der Bevölkerung ist unter 20 Jahre alt.
Ruto muss nun an drei Fronten kämpfen: gegen die alten Eliten um seinen Vorgänger Kenyatta, gegen den Unmut der Jugend und gegen die Enttäuschung im eigenen Lager.
Der 58-Jährige inszeniert sich gerne als Anwalt der Armen. Mindestens 40 Prozent der Kenianerinnen und Kenianer leben in prekären Verhältnissen. Diese Menschen hat Ruto seit seinem Amtsantritt 2022 besonders enttäuscht.
„Es gibt den Vorwurf, dass er kein Gespür für die Sorgen der einfachen Leute hat“, sagt Protestforscher Kamencu. „Die Lebenshaltungskosten sind wahnsinnig. Die Unzufriedenheit ist groß. Die Menschen haben das Gefühl, der Präsident verschaukelt sie.“
Sollte Ruto seine Pläne für Steuererhöhungen wieder aufnehmen, wie es aktuell debattiert wird, könne das neue Proteste entfachen. Nicht auszuschließen, dass der Präsident dann noch härter dagegen vorgeht – und weitere junge Menschen spurlos verschwinden.
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