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Natalia Myronenko im „Café with Cats“ und eine Kundin

© Yulia Valova

Leben unter Beschuss im kriegsgebeutelten Cherson: „Sie verlieren die Hoffnung, dass diese Hölle jemals enden wird“

In der ukrainischen Stadt sind Explosionen und Schüsse quasi rund um die Uhr zu hören. Es gibt nicht viele Menschen, die hier normal weiterarbeiten. Warum Menschen wie Natalia und Maryna es dennoch tun.

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„Ich verstecke mich nirgendwo“, sagt Maryna. Die 20-Jährige arbeitet als Kellnerin und Barista im „Black Goose Café“. Es liegt mitten im Zentrum von Cherson – und damit in einer der gefährlichsten Regionen der Ukraine.

Die russische Armee beschießt die südliche Großstadt quasi dauerhaft und greift Siedlungen im Umland mit Drohnen an. Gleichzeitig sind die Verteidigungskräfte mit Gegenoperationen beschäftigt. Explosionen und Schüsse sind rund um die Uhr zu hören.

Und trotzdem ist Maryna jeden Tag um 7 Uhr da, wenn die ersten Kunden zum Frühstück kommen. „Seit meine Familie und ich im Jahr 2023 aus den Trümmern unseres Hauses entkommen sind, habe ich eine philosophische Einstellung zum Tod“, sagt sie. „Wenn ich sterben muss, bedeutet das, dass dies mein Schicksal ist.“

Wenn ich sterben muss, bedeutet das, dass dies mein Schicksal ist.

Maryna Prikhodko, Barista im Black Goose Café

Vor allem Ärzte, Militärangehörige, Rettungskräfte und Beamte gehören zu den Kunden – und schätzen den nach einem traditionellen Chersoner Rezept zubereiteten ukrainischen Borschtsch.

Es gibt nicht viele Menschen, die wie Maryna in Cherson weiterarbeiten. Die Straßen der einstigen Touristenstadt, die in der ganzen Ukraine für Wassermelonen und Pfirsiche bekannt war, sind inzwischen verlassen. Statt der knapp 290.000 Einwohner, wie noch vor dem Krieg, leben in Cherson heute noch etwa 68.000 Menschen.

Nur wenige Apotheken, Lebensmittelgeschäfte und Cafés haben überhaupt noch geöffnet. Und eine Schule, deren Lehrer den Unterricht online durchführen.

Maryna Prikhodko arbeitet in einem Café.

© Yulia Valova

Mehrfach musste Maryna mit ihrer Großmutter und ihrem sehbehinderten Vater schon umziehen, weil ihre Wohnungen zerstört wurden. „Wir sind in den sichersten Teil der Stadt gezogen, aber ich muss im Zentrum arbeiten, weil es nur dort noch Cafés gibt. Ich ernähre meine Familie, also habe ich keine andere Wahl“, erzählt sie. Ihr Freund verteidigt als Soldat die Region Cherson gegen die Russen. „Ich muss bis zum Ende bei ihm bleiben.“

Nicht weit entfernt betreibt die 37-jährige Natalia das „Café with Cats“, das nicht nur mit Katzenbildern dekoriert ist, sondern quasi auch als Tierheim dient. Ihr erstes Café wurde im vergangenen Jahr durch eine russische Rakete zerstört, „aber wir sind hartnäckige Menschen“, sagt sie über sich und ihren Mann.

Heute ist das Katzencafé ein Ort der Begegnung für das gesamte Stadtzentrum. Vom frühen Morgen bis zum Sonnenuntergang ist es überfüllt. Eine Besucherin ist Tatiana, die in der Nacht zuvor noch Bewohner eines Hochhauses behandeln musste, die durch Beschuss verletzt wurden. Für Tatiana ist das Café der Lieblingsort, um den Erlebnissen und Gedanken zu entkommen.

Freiwillige unterstützen auf allen Ebenen

In der Nacht haben die Russen drei Lenkbomben auf Cherson abgeworfen, von denen eine ein mehrstöckiges Wohnhaus getroffen und mehrere Stockwerke zerstört hat. Am Morgen gelingt es den Rettungskräften, mehrere Menschen aus den Trümmern zu ziehen, darunter 15-jährige Zwillinge. Ihre tote Mutter wird erst viel später gefunden.

Mehrere Tage lang sind die Rettungskräfte, Versorgungsunternehmen und Polizei mit den Folgen des russischen Luftangriffs beschäftigt. Unterstützt werden sie dabei von zahlreichen Freiwilligendiensten, die in der Stadt zusammenarbeiten.

Maria und ihr Kollege sind Sanitäter.

© Yulia Valova

Die 19-jährige Maria, die auf den Namen Mischka (kleiner Bär) hört, ist freiwillige Sanitäterin. Mischka legt den Verwundeten Aderpressen an, hilft den Überlebenden, sich von dem Schock zu erholen, und unterstützt die Ärzte, die die Verwundeten in die Krankenwagen verlädt.

Yulia Kiseljowa, Gründerin der Nichtregierungsorganisation „Good Staff Cherson“, erfährt nachts von der Tragödie und verbringt mehrere Stunden mit einer Freundin zu Hause, um Sandwiches zu machen und Kaffee in Thermoskannen abzufüllen. Sie bringt die Lebensmittel zum „Ort der Tragödie“, um die Retter zu unterstützen.

Yulia Kiseljowa hat die Besatzung in Cherson überlebt.

© Yulia Valova

Kiseljowa hat die Stadt seit Kriegsbeginn nicht mehr verlassen, hat die Besatzung überlebt und ihr Geschäft, ein Café, behalten. „Ich verdiente Geld im Café, indem ich ungebetene Gäste bediente, und gab es aus, um Menschen in Not zu helfen. Meine Schwester und ich kauften Medikamente für die Kranken und Alten in der Stadt. Wir bereiteten warme Mittagessen für Kinder zu und verteilten sie in der Stadt“, erinnert sich die Freiwillige.

Nach der Befreiung Chersons konzentrierte sich Yulia Kiseljowa auf die Unterstützung der ukrainischen Soldaten. Sie richtete in ihrem Café ein Wohltätigkeitszentrum ein, an das ihre Freunde Medikamente, warme Kleidung, Süßigkeiten und Kekse schickten.

Man muss ständig mit ihnen kommunizieren, sie ermutigen, ihnen Hoffnung und Kraft geben, damit sie weiterleben und an den Sieg glauben.

Yulia Kiseljowa, Besitzerin eines Cafés in Cherson

Und die Schulkinder der Region malten Bilder, die den Streitkräften und dem Sieg der ukrainischen Armee über den Feind gewidmet waren. Einmal pro Woche schickt sie die humanitäre Hilfe an die Frontlinie.

Sie träumt davon, dass ihr Zentrum rund um die Uhr psychologische Hilfe für die Bewohner von Cherson anbietet. „Die Menschen, die in diesem Ort geblieben sind, verlieren die Hoffnung, dass diese Hölle um sie herum jemals enden wird. Es ist schwer für sie, allein zurechtzukommen, und Beruhigungsmittel helfen nicht. Man muss ständig mit ihnen kommunizieren, sie ermutigen, ihnen Hoffnung und Kraft geben, damit sie weiterleben und an den Sieg glauben“, sagt Kiseljowa.

Auch die junge Maryna Prykhodko braucht psychologische Unterstützung. Seit zwei Jahren weint sie nachts, nimmt Medikamente ein, um weiterleben, zur Arbeit gehen und sich morgens um ihre Familie kümmern zu können.

Inmitten der traurigen Gedanken an den nicht enden wollenden Krieg und der Angst erlaubt sie sich manchmal, davon zu träumen, ihren Geliebten in einem schönen Hochzeitskleid zu heiraten, ihr Familienhaus in der ukrainischen Stadt Oleschky wieder aufzubauen und viele rote Rosen in ihrem Garten blühen zu sehen. Wenn Maryna an Rosen denkt, lächelt sie.

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