zum Hauptinhalt
Ein russischer Soldat hält eine abgeschossene FPV-Drohne in einem Dorf der Region Kursk.

© Imago/Sputnik/Sergey Bobylev

Militärexperte nach Ukraine-Frontbesuch: „Die besten Soldaten sind entweder tot, verwundet oder gefangen“

Franz-Stefan Gady war kürzlich an der Ukraine-Front. Der Militärexperte geht davon aus, dass der Krieg wahrscheinlich nicht bald enden wird – Kiew aber einen großen Vorteil verlieren könnte.

Stand:

Herr Gady, Sie waren kürzlich wieder bei ukrainischen Soldaten an der Front. Was haben Sie vom Krieg mitbekommen?
Es ist schon sehr deutlich, dass unter den Soldaten Erschöpfungssymptome erkennbar sind. Der Wille, Russland Widerstand zu leisten, ist dennoch ungebrochen. Es gibt Frustration, aber das ist in jeder Armee normal, die sich seit so vielen Jahren im Krieg befindet. 

Worüber beschweren sich die Soldaten?
Ein wiederholt geäußerter Kritikpunkt ist, dass es nur selten Rückzugsbefehle auf dem Gefechtsfeld gibt und Stellungen zu lange gehalten werden. Die Front an sich ist aber relativ stabil.

Dort, wo die Russen die meisten Fortschritte machen, im Donbass im südlichen Donezk, macht sich jedoch der Personalmangel stärker bemerkbar. Die meisten Beschwerden beziehen sich darauf, dass an der Front nicht ausreichend Soldaten für die Aufgaben zur Verfügung stehen.

Aber glaubt unter den Soldaten noch jemand, dass die komplette Ukraine befreit wird?
Solche Diskussionen gab es in meiner Gegenwart nicht. Als Analyst war ich dort, um über militärische Details zu Taktiken und operativen Konzepten zu sprechen, nicht aber mit Soldaten über die Sinnhaftigkeit des Krieges.

Für die Männer geht es darum, die einzelnen Frontabschnitte zu halten, zu überleben, Aufträge zu erfüllen, also um das alltägliche Soldatenhandwerk. 

Die Russen haben sehr gute Fortschritte in der Drohnenkriegsführung gemacht. Der Drohnenvorteil, den die Ukraine hatte, schwindet teilweise.

Franz-Stefan Gady, Analyst und Militärberater

Sie sind seit Beginn des Angriffskriegs vor dreieinhalb Jahren immer wieder an die Front gefahren. Wie hat sie sich seitdem verändert?
Die Bedrohung durch russische Angriffe reicht inzwischen tiefer ins Land hinein: Früher konnte man davon ausgehen, dass man sich etwa zehn bis 15 Kilometer hinter der Hauptkampflinie in relativer Sicherheit befindet. Heute reicht die Gefahrenzone bis 30 Kilometer hinter die Front.

Auf diesem Streifen entlang der Front sind verstärkt russische Drohnen mit Glasfaserkabeln aktiv: Sie werden an einer Straßenkreuzung oder an Kurven positioniert und greifen gezielt an. Diese Präzisionskriegsführung ist viel gefährlicher und tödlicher geworden.

Wie ging es Ihnen persönlich angesichts dieser Gefahr?
Man hat das Gefühl, unter Dauerbeobachtung von Drohnen zu stehen. Gepaart mit der Gefahr, von ihnen erkannt und beschossen zu werden. Wir hatten ein Gerät bei uns, mit dem man Videobilder von russischen Angriffsdrohnen abfangen kann.

Es zeigt an, ob eine Drohne die Straße oder das Geländestück, auf dem man fährt, beobachtet. Sobald sich eine nähert, beginnt das Gerät zu piepsen und man muss sofort reagieren: das Fahrzeug verlassen und in Deckung gehen – oder schnell weiterfahren. Das ist nervenaufreibend und ist uns auch so passiert.

Was bereitet den Ukrainern derzeit die größten Probleme?
Die Russen haben sehr gute Fortschritte in der Drohnenkriegsführung gemacht. Der Drohnenvorteil, den die Ukraine hatte, schwindet teilweise. Das kann größere Konsequenzen haben und stellt eine große Herausforderung dar: Das gesamte ukrainische Verteidigungssystem ist auf der Überlegenheit in der Drohnenkriegsführung aufgebaut. Sie müssen jetzt Gegenmittel finden, um den Russen ihren Vorteil zu rauben, den sie entlang einiger Angriffsachsen inzwischen haben.

Der ukrainische Personalmangel wird durch die Überlegenheit der russischen Drohnenkriegsführung ebenfalls schlimmer: Es ist schwierig, verwundete Soldaten von der Frontlinie zu evakuieren oder sie abzulösen. Teilweise sind Soldaten 200 Tage oder länger an vorderster Front und können nicht rotiert werden, weil die Gefahr von Drohnenangriffen so groß ist. Dadurch kann auch nicht genug neues Personal an die Front geschickt werden.

Die Ukraine kann vieles an Kriegsgerät, inklusive Minen und teilweise auch Artillerie, inzwischen selbst herstellen. Die Abhängigkeit von amerikanischer und europäischer Produktion besteht aber fort.

Franz-Stefan Gady, Analyst und Militärberater

Sie sagen, dass Russland im Drohnenkrieg inzwischen teilweise die Überhand hat. Was muss die Ukraine tun, um das Blatt zu wenden?
Die Ukraine muss weiter auf unbemannte Systeme setzen – verstärkt auf einzelne neue Drohnen und Innovationen, zum Beispiel Abfangdrohnen. Aber sie muss auch die Drohnenproduktion steigern und die organisatorischen Strukturen ändern. Es gibt die berühmte „Line of Drones“, die sie zu einer „Frontfeuerwehr“ ausbauen kann. Das sind Eliteeinheiten, die an brenzlige Punkte der Front geschickt werden, um dort zu stabilisieren – ähnlich wie eine Feuerwehr, die Feuer löscht.

Eine andere Sache, die man an allen Frontabschnitten hört, war der Name „Rubicon“: Das sind russische Drohnenverbände, die 20 bis 25 Kilometer hinter der Front operieren und darauf spezialisiert sind, ukrainische Drohnen zu jagen und ihnen den Luftraum zu rauben sowie den benötigten Nachschub für Drohnen zu unterbinden. Hier will man ähnlich systematisch vorgehen wie die Russen.

Eine Abfang-FPV-Drohne des 1129. Bilotserkivskyi-Flugabwehrraketenregiments

© Reuters/Valentyn Ogirenko

Welche Rolle spielen – neben den Drohnen – andere Hightechwaffen? Es war ja zum Beispiel von Landrobotern die Rede.
Klar ist, dass die Zukunft der Kriegsführung eine große, unbemannte Komponente beinhalten wird. Sei es in der Luft, zu Land oder zu See. Dort wird es um eine Masse an billigen Präzisionswaffensystemen gehen.

In den Medien stehen diese Waffeninnovationen im Vordergrund. Es ist aber wichtig zu verstehen, dass der Verbund entscheidend ist. Das heißt: Ohne die Artillerie etwa können Angriffsdrohnen nicht so effektiv agieren, sie muss ihnen den Weg freischießen.

Also braucht die Ukraine weiter Unterstützung aus dem Westen …
Zumindest weniger, als es noch 2022, 2023 und 2024 der Fall war. Die Ukraine kann vieles an Kriegsgerät, inklusive Minen und teilweise auch Artillerie, inzwischen selbst herstellen. Die Abhängigkeit von amerikanischer und europäischer Produktion besteht aber fort. Auch in Teilen der Gefechtsfeldaufklärung ist die Ukraine nach wie vor sehr stark von amerikanischen Daten abhängig.

Auch unabhängig von Drohnen führt Russland einen sogenannten Abnutzungskrieg gegen die Ukraine. Es geht darum, länger durchzuhalten, als es die Verteidiger tun. Welche Seite hat unter den gegebenen Umständen die besseren Chancen zu gewinnen?
Man kann in Konflikten wie in der Ukraine nur einige Monate vorausblicken, und die personelle und materielle Überlegenheit der russischen Armee sind dabei zwei Faktoren von mehreren. Krieg ist immer ein Wettbewerb des Willens. Die Ukrainer zeigen nach wie vor, dass sie gewillt sind, weiterzukämpfen. Zudem geht es auch um die richtigen Taktiken und Konzepte. Hier hat die Ukraine ebenfalls immer wieder demonstriert, dass sie innovativ und den Russen teilweise überlegen ist.

Insgesamt ist die Qualität auf beiden Seiten der Truppe jedoch stark am Sinken. Das ist leider ein normales Phänomen im mittlerweile vierten Kriegsjahr, weil die besten und bestausgebildeten Soldaten entweder tot, verwundet oder gefangen sind.

Franz-Stefan Gady, Analyst und Militärberater

Wo sehen Sie Schwächen auf der russischen Seite?
Die russische Armee liegt zwar in der Drohnenkriegsführung vorn, sie hat im Bereich der Taktik und Qualität der Truppe aber deutliche Einbußen hinnehmen müssen. Die russischen Streitkräfte sind derzeit nicht in der Lage, groß angelegte Offensiven durchzuführen oder Angriffe zu intensivieren. Daher ist nicht davon auszugehen, dass Russland größere operative Durchbrüche erzielen wird und die Frontlinie kollabiert.

Denn selbst wenn es den russischen Truppen gelingt, einzelne Schwachstellen in der ukrainischen Verteidigung auszunutzen, können diese Lücken in der Regel rasch von der Ukraine durch Drohnen geschlossen werden.

Insgesamt ist die Qualität auf beiden Seiten der Truppe jedoch stark am Sinken. Das ist leider ein normales Phänomen im mittlerweile vierten Kriegsjahr, weil die besten und bestausgebildeten Soldaten entweder tot, verwundet oder gefangen sind.

Rekrutierungsplakate für die ukrainischen Streitkräfte in Saporischschja.

© Imago/SOPA Images/Andriy Andriyenko

Was kann die Ukraine tun, um mehr Soldaten zu rekrutieren?
Ich glaube, sie sollte Menschen im Alter von 18 bis 24 Jahren einberufen. Es wäre keine große Prozentzahl aus dieser Gruppe nötig. 30.000 bis 50.000 junge Männer würden reichen, um den Bedarf zu decken und um einige der ausgebluteten Brigaden aufzufrischen.

Aber das ist letztendlich eine politische Entscheidung, bei der es auch um die Zukunft der Ukraine geht. Es wurde entschieden, die geburtenschwachen Jahrgänge nicht in den Krieg zu schicken. Nun ist es ein Krieg von Männern mittleren Alters. Offiziere sind oft in ihren 20ern oder 30ern, während die einfachen Soldaten 40 bis 45 Jahre und älter sind.

Ein 40 Jahre alter Soldat soll sich von einem 25-Jährigen Befehle geben lassen?
Oder von einem 21-Jährigen. Das passiert jeden Tag. Wenn man sich mit einem Kommandanten zusammensetzt, ist der vielleicht 26 Jahre alt, und es kann passieren, dass ein 45 oder 50 Jahre alter Soldat den Tee serviert.

In Sumy im Norden der Ukraine, wo die russische Armee eine zweite Front eröffnet hat, kam sie nicht wirklich vorwärts. Das war ein Erfolg für die Ukraine. Wie ist das gelungen?
In Sumy hat die Ukraine sogar teilweise Territorien zurückerobert. Sie hat Elite-Verbände dorthin verlegt und sehr stark Präzisionsmunition und Boden-Boden-Raketen eingesetzt, um den russischen Vormarsch zu stoppen. Die Front ist hier wieder stabilisiert. Die Frage wird sein, was passieren wird, wenn die Elite-Verbände wieder abgezogen und an anderen Frontabschnitten eingesetzt werden. 

Vor einem Jahr hat die Ukraine überraschend Territorium im russischen Kursk erobert. Hat sich diese Mission rückblickend gelohnt?
Ich war von Anfang an skeptisch, was diese Operation angeht. Ich habe an der Front bis dato auch keinen ukrainischen Soldaten oder Offizier getroffen, der tatsächlich positiv darüber gesprochen hat. Für die Ukraine hat sich Kursk – abgesehen von den temporären territorialen Eroberungen – nicht ausgezahlt. Die Verluste waren relativ hoch, außerdem musste die Armee beim Rückzug viel Ausrüstung liegen lassen.

Schauen wir nach Russland: Das Land wurde auf Kriegswirtschaft umgestellt, es gibt eine große Belastung durch die Inflation. Können Sie einschätzen, wann Wladimir Putin Probleme mit der eigenen Bevölkerung bekommen wird?
Ich bin kein Ökonom, aber es scheint mir ein Trugschluss zu sein, davon auszugehen, dass wirtschaftliche Schwierigkeiten im Jahr 2025 unmittelbar das Kriegsgeschehen beeinflussen würden. Der inflationäre Druck ist aber erkennbar und die wirtschaftliche Lage dürfte zunehmend schwierig werden.

Die Amerikaner stehen in der Ukraine nach wie vor hoch im Kurs. Auf die Verhandlungen wird aber wenig gegeben, weil an der Front nichts davon zu spüren ist, dass dieser Krieg in naher Zukunft zu Ende sein wird.

Franz-Stefan Gady, Analyst und Militärberater

US-Präsident Donald Trump hat jüngst auf eine Provokation von Russlands Ex-Präsident Dmitri Medwedew reagiert und die Verlegung von zwei Atom-U-Booten in die Nähe von Russland angeordnet. Wirkt sich das auf den Krieg aus?
Es ist unklar, ob Trump Atom-U-Boote gemeint hat, atombetriebene Jagd-U-Boote oder atombetriebene U-Boote, die bestückt sind mit Marschflugkörpern. Ich glaube, er wollte signalisieren, dass die USA gewillt sind, härtere Maßnahmen zu ergreifen. Aber ich würde das nicht überbewerten. Vor allem beeinflusst es nicht das nukleare Gleichgewicht zwischen Russland und den USA. 

Trump hat Putin ein Ultimatum bis zum 8. August gesetzt. Bis dahin muss es einen Waffenstillstand geben, oder es drohen Sanktionen. Wie wird an der Front auf den US-Präsidenten geblickt?
Grundsätzlich ist die Meinung gegenüber den USA viel positiver als noch vor unserer letzten Reise vor einigen Monaten. Die Amerikaner stehen in der Ukraine nach wie vor hoch im Kurs. Auf die Verhandlungen wird aber wenig gegeben, weil an der Front nichts davon zu spüren ist, dass dieser Krieg in naher Zukunft zu Ende sein wird.

US-Präsident Donald Trump und Russlands Präsident Wladimir Putin während des G20-Gipfels in Buenos Aires 2018.

© Reuters/Marcos Brindicci

Das heißt, auch am 8. August wird sich wahrscheinlich nicht viel ändern?
Nicht unmittelbar. Ich kann mir schwer vorstellen, dass Russland seine Angriffe einstellt. Die aktuellen Offensiven haben bereits im März begonnen und werden wahrscheinlich bis in den Herbst hineingehen.

Für die ukrainischen Streitkräfte kämpfen auch Ausländer. Welche Nation spielt dabei die größte Rolle?
Es gibt eine große Gruppe Südamerikaner. Die Ukraine war sehr bestrebt, Menschen aus dieser Region zu rekrutieren. Mir wurde gesagt, dass Armeeköchinnen extra die südamerikanische Küche gelernt haben, damit den Freiwilligen von dort das Essen schmeckt. Auch wurde darauf geachtet, dass es spanisch sprechende ukrainische Offiziere und Unteroffiziere gibt.

Machen die ausländischen Kämpfer einen Unterschied?
Ich glaube, sie werden den Personalmangel nicht ausgleichen können. Der ist nach wie vor die größte Herausforderung.

Herr Gady, haben Sie sich denn von Ihrem jüngsten Trip an die Front inzwischen einigermaßen erholt?
Es dauert immer zwei Wochen. Ich werde dann stets ein bisschen krank. Es geht schließlich wieder, aber auf meinen Trips ist die Drohnengefahr wirklich allgegenwärtig. Außerdem war in den Städten jede Nacht Luftalarm, man hat auch immer die Explosionen gehört.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
false
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })