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Oppositionskandidat Kemal Kilicdaroglu bei einer Rede am Tag nach der Wahl.

© IMAGO/ZUMA Wire/IMAGO/Tunahan Turhan

Wahlbeobachter in der Türkei: „Dringender Nachholbedarf bei der Chancengleichheit“

Michael Link koordiniert die Wahlbeobachtung der Parlamentarischen Versammlungen von OSZE und Europarat in der Türkei. Er beklagt eine „Schlagseite“.

Herr Link, Sie leiten eine internationale Wahlbeobachtermission in der Türkei. Sind die Wahlen am Sonntag fair und ordnungsgemäß verlaufen? Gab es Unregelmäßigkeiten, und, wenn ja, wie gewichten Sie diese?
Es gab Unregelmäßigkeiten, aber weniger am Wahltag selbst, sondern mehr während des Wahlkampfes zuvor. In der medialen Berichterstattung gab es keine Chancengleichheit. Diese Wahl wurde charakterisiert von einer ganz überragenden Präsenz von Präsident Recep Tayyip Erdogan in den Medien, und zwar durchweg positiv. Oppositionskandidat Kemal Kilicdaroglu hatte hingegen große Probleme, in den Medien vorzukommen. Gelang ihm das, war es meist negativ. Das verursacht eine Schlagseite.     

Haben Sie, hat Ihr Team offenkundige Verstöße gegen die Wahlgesetze registriert?
Die erwähnten Punkte in den Medien sind solch ein Verstoß, denn die Verfassung garantiert Chancengleichheit. Auszählungsprobleme, Fehler bei der Auszählung im Sinne von Manipulation oder Fälschung haben wir bisher nicht festgestellt. Wir haben Probleme, Ungenauigkeiten, Unkenntnisse der Regeln festgestellt. Aber wir konnten darin keine groß angelegte Manipulation sehen.

Die sehr intrasparente Ergebnispräsentation durch die oberste Wahlbehörde muss dringend verbessert werden

Michael Link (FDP), Chef-Wahlbeobachter

Für wie aussagekräftig halten Sie das Bild, das Sie und Ihre Kollegen sich gemacht haben?
Das ist ziemlich genau, denn wir arbeiten mit Langzeitbeobachtern, die seit sechs Wochen im Land waren. Wir waren insgesamt 350 Beobachter, das ist eine recht große Gruppe. Wir beziehen uns außerdem auf die in der Türkei außerordentlich aktiven einheimischen Wahlbeobachter, Nicht-Regierungsorganisationen, Medien. Wir hatten Kontakt zu den Beobachtern der Parteien, von Regierung wie Opposition. Trotz alldem bleibt das Gefühl zurück, dass die sehr intransparente Art und Weise, wie die oberste Wahlbehörde die Ergebnisse präsentiert, dringend verbessert werden muss.

Schon zu Beginn der Wahl am Sonntag gab es Zweifel an den von der Staatsagentur Anadolu veröffentlichten Zahlen. Wie sehen Sie das?
Die Zahlen, die wir am Sonntagabend nach 17 Uhr gesehen haben, kommen meist von zwei großen Nachrichtenagenturen, die staatliche Anadolu und einer privaten Agentur. Anadolu bezieht sich angeblich auf die Zahlen der staatlichen Wahlkommission, die private baut auf die parteiinterne Wahlbeobachtung durch die CHP. Genaues aber erfährt man nicht. Stattdessen wird sehr selektiv veröffentlicht. Da die staatliche Wahlkommission erst sehr spät, um drei Uhr nachts, erste Zahlen veröffentlicht hat, hatte Anadolu das Prä und konnte ein Narrativ prägen. Diese Intransparenz schadet der Integrität des Wahlprozesses

Nun kommt es am 28. Mai zu einer Stichwahl zwischen Präsident Erdogan und Oppositionsführer Kilicdaroglu. Welche Gefahren sehen Sie in den nächsten zwei Wochen für eine faire und ordnungsgemäße Stichwahl?
Man kann man nur hoffen, dass die Polarisierung zwischen den beiden großen Blöcken in den kommenden zwei Wochen friedlich und korrekt bleibt. Bisher lief es weit überwiegend friedlich ab, aber die Emotionen kochen hoch. Es geht um außerordentlich viel. Es wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen werden.

Angenommen, ein Kandidat siegt am 28. Mai mit 50,1 Prozent der Stimmen. Wie sicher wären Sie, dass diese 50,1 Prozent real sind?
Das ist die Frage der Fragen. Selbst wenn ein solches Ergebnis mit der Zählung klar übereinstimmt, so bleiben die Tage vor der Wahl wichtig. Also: Gibt es einen Wahlkampf der echten Chancengleichheit? Deshalb appellieren wir so stark an die türkische Seite, nicht den Fehler zu wiederholen, der vor dem ersten Wahlgang gemacht wurde, indem die Regierungsseite eindeutig in den Medien bevorzugt wurde. Das muss sich besser. Hier herrscht dringender Nachholbedarf.

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