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Übungen im eisigen Norden: Nato-Truppen in Norwegen.

© dpa/Lphot Stainer-Hutchins/Ministry of Defence

Norwegens Grenze zu Russland: „Wir werden uns verteidigen, und dazu gehört Abschreckung“

Norwegen baut seine Verteidigung im hohen Norden aus. Ein Gespräch mit Eivind Vad Petersson vom norwegischen Außenministerium über Russlands Aufrüsten und den Wert der Diplomatie.

Stand:

Herr Vad Petersson, in Berlin wurde diese Woche bei der Sicherheitskonferenz die erhöhte Gefahrenlage in Nordeuropa diskutiert. Befindet sich Norwegen schon im Krieg mit Nachbar Russland?
Es ist ganz klar eine Zwischenstufe zwischen Krieg und Frieden. Unser Premierminister Jonas Gahr Store hat immer wieder gesagt, dass wir uns jetzt in der schwierigsten Sicherheitslage seit dem Zweiten Weltkrieg befinden. Das hat natürlich mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine zu tun – und damit, dass Russland unser direkter Nachbar ist.

Aber um nicht nur ein schwarzes Bild zu zeichnen: Unsere nordischen Freunde Schweden und Finnland sind jetzt auch unsere Nato-Alliierten. Und das ist für Norwegen sehr, sehr wichtig.

Wichtig ist aber auch: Aus dieser Zwischenstufe muss nicht zwangsläufig Krieg werden, sondern die Spannungen können auch wieder abnehmen. Russland hat es in der Hand, dies in die Wege zu leiten.

Seit dem Kalten Krieg war es Teil des norwegischen Sicherheitskonzepts, eine Balance zwischen Abschreckung und Entspannung zu finden. Ist das heute noch möglich?
Norwegen stellt für niemanden eine Bedrohung dar, die Nato als Verteidigungsbündnis auch nicht. Aber wir werden uns verteidigen, und dazu gehört Abschreckung. Im hohen Norden gibt es immer noch ein sehr ungleiches militärisches Kräfteverhältnis, wir werden aber trotzdem nicht unsere gesamte Verteidigung direkt an der Grenze stationieren.

Die Äußerungen aus Moskau, dass die Nato an der Nordflanke provoziert und aufrüstet, nehmen Sie nicht ernst?
Schon wenn man sich nur die militärischen Kräfteverhältnisse auf beiden Seiten ansieht, fällt es schwer, dieses Argument ernst zu nehmen. Da gibt es eine massive Asymmetrie, die russische Seite ist um ein Vielfaches stärker.

Dennoch bauen Sie Ihre Präsenz im Norden aktuell aus. Erstmals gibt es auch in der Finnmark eine Brigade.
Wir sind natürlich gerade dabei, unsere Verteidigungskräfte erheblich aufzubauen und Ressourcen in sie zu investieren. Ein Großteil davon wird nach Nordnorwegen und in die Gebiete in der Nähe von Russland fließen. Das ist aber keine neue Entwicklung, die Region war schon immer Schwerpunkt unserer Streitkräfte.

Es sollte keine Zweifel daran geben, dass wir uns gemeinsam mit unseren Verbündeten verteidigen werden.

Eivind Vad Petersson, Mitarbeiter im norwegischen Außenministerum

Jahrzehntelang galt aber die selbst auferlegte „24-Grad-Regel“: Östlich des 24. Längengrades durften keine alliierten Militärübungen abgehalten werden. Diese Regel soll laut Ihrem Regierungschef Store nun „angepasst“ werden.
Wir müssen unseren Ansatz an die Realität anpassen, mit der wir konfrontiert werden. Deshalb haben wir unsere nationalen Richtlinien aktualisiert. Dabei geht es auch darum, wie weit wir unsere Verbündeten in den Osten bringen können. Das Hauptquartier der neuen Brigade liegt mitten in der Finnmark, aber nicht in der Nähe der Grenze.

Hinter der Grenze lagert ein Großteil des russischen Atomwaffenarsenals auf der Kola-Halbinsel. Müsste Norwegen nicht alles vermeiden, was von Moskau als Provokation verstanden werden könnte?
Noch einmal: Wir stellen auf keinen Fall für irgendjemanden eine Bedrohung dar, wir provozieren nicht, aber verteidigen uns. Einer unserer sicherheitspolitischen Grundpfeiler ist es, entschlossen, aber berechenbar zu sein. Auch, um Missverständnisse zu vermeiden.

Dennoch sollte es keine Zweifel daran geben, dass wir uns gemeinsam mit unseren Verbündeten verteidigen werden, sollte das notwendig sein. Wir nutzen aber natürlich weiterhin militärische Kanäle, um mit der russischen Seite zu kommunizieren, und haben als Nachbarländer auch einigermaßen funktionierende diplomatische Beziehungen.

Unsere Beziehung zu Russland hat sich schon oft verändert und wird sich wahrscheinlich wieder verändern.

Eivind Vad Petersson, Mitarbeiter im norwegischen Außenministerum

Welche konkreten Entwicklungen sehen Sie auf der russischen Halbinsel Kola?
Die konventionellen Landstreitkräfte wurden zusammengezogen und an die Front in der Ukraine geschickt. Ansonsten sind die Nordflotte, die russische Marine, die Luftwaffe und die strategischen Nuklearstreitkräfte weitgehend stabil geblieben.

Dennoch ist die Arktis zuletzt immer mehr zur militärischen Schlüsselzone geworden, Russland rüstet seine Militärstandorte dort weiter auf. Welche Risiken hat das für Norwegen als Arktisstaat?
Immer wieder finden militärische Tests statt, und es stimmt, dass militärische Infrastruktur gebaut wird. Zum Teil ist das einfach eine Reaktion auf das Verschwinden des Permafrosts, alte Infrastruktur muss ersetzt werden.

In der Vergangenheit gab es aber auch Phasen, in denen wir mit Russland zusammengearbeitet haben: Nach dem Kalten Krieg gab es auf Kola eine Menge Atommüll. Gemeinsam haben wir es geschafft, den zu entsorgen. Unsere Beziehung zu Russland hat sich schon oft verändert und wird sich wahrscheinlich wieder verändern. Aktuell ist es aber ein Land, das einen brutalen Angriffskrieg führt, und das hat Konsequenzen.

Zugleich konnte Russland in der Barentssee auch mit westlicher Technologie aufrüsten und soll auch beim staatlich kontrollierten norwegischen Rüstungskonzern Kongsberg eingekauft haben. Wie wollen Sie verhindern, dass das nicht noch einmal passiert?
Das ist einfach die Realität unserer Zeit, wir führen Exportkontrollen aus gutem Grund durch. Das ist komplizierter geworden, es gibt Technologien mit doppeltem Verwendungszweck. Unsere Behörden passen sich da aber an.

Wir haben eine neue Regierungsbehörde eingerichtet, die sich mit Exportkontrollen und Sanktionen befasst. Außerdem haben wir gemeinsam mit der EU die gesamte Sanktions- und Exportkontrollmaschinerie massiv verstärkt. Aber ein Weg daran vorbei lässt sich wohl leider manches Mal immer noch finden.

Sie kontrollieren also strenger, sagen aber auch, dass sich das nie vollständig verhindern lässt?
Eine hundertprozentige Garantie, dass Technologie nicht in falsche Hände gerät, gibt es nicht. Wir können das nur erschweren.

Winterkampf in Norwegen: Bei dem Großmanäver Cold Response üben Zehntausende Soldanten und Soldatinnen aus mehr als 25 Nato-Ländern im März im hohen Norden.

© Reuters/Yves Herman

Im Sommer dieses Jahres hat das Außenministerium seine neue Arktisstrategie vorgestellt. Noch 2020 hob die Vorgängerregierung die Zusammenarbeit mit Russland hervor. Ist das einstige Friedensprojekt Arktis damit offiziell gescheitert?
Wir müssen uns mit der Welt so auseinandersetzen, wie sie ist, nicht so, wie wir sie gern hätten. Der hohe Norden ist nach wie vor unser wichtigstes strategisches Interessengebiet. Schauen Sie sich nur den Namen unseres Landes an.

Norwegen steht für „Weg nach Norden“.
Das ist für uns und unsere Identität als Land sehr wichtig. Ja, die Spannungen im hohen Norden sind mehr geworden, in der Ostsee sind sie aber viel größer als in der Barentssee. Die Lage ist also noch recht stabil.

Die kälteren Winde in der Arktis haben ihren Ursprung nicht dort, sondern im russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Das hat Konsequenzen. Aber trotz angespannter Sicherheitslage gibt es im Norden keinen Krieg. Die Arktis als wichtiges Friedensprojekt ist nicht selbstverständlich. Wir müssen weiter daran arbeiten, dass das so bleibt.

In der neuen Arktisstrategie heißt es unter anderem, dass Oslo eine „konsequente und berechenbare Russlandpolitik verfolgen“ will. Wie soll die konkret aussehen?
Dass wir entschieden und vorhersehbar bleiben. Wir sind Gründungsmitglied der Nato, wir werden uns verteidigen. Zugleich machen wir klar, dass wir niemanden bedrohen. Wir wissen durch jahrhundertelange Erfahrung, wie wir mit Russland umgehen müssen.

Die europäischen Sanktionen gegen Russland haben aber gerade die nördliche Finnmark wirtschaftlich schwer getroffen. Ein russisches Propagandanarrativ ist es, den Norden Norwegens gegen den Süden auszuspielen. Wie wollen Sie dem den Wind aus den Segeln nehmen?
Das macht Russland mit seinem brutalen Angriffskrieg schon ganz allein. Der Handlungsspielraum für russische Propaganda in Norwegen ist ziemlich klein. Ein Beispiel: Bei der Parlamentswahl im September gab es eine prorussische Partei, die bekam in der Finnmark nahe der Grenze weniger Stimmen als in Oslo. Dies ist doch ein deutlicher Hinweis darauf, dass die russische Propaganda nicht zielgerichtet ist. Sie ist überhaupt nicht erfolgreich.

Wichtig ist auch zu wissen, dass im norwegischen Parlament vom rechten bis zum linken Flügel sich alle Parteien einig sind, was die Entwicklung der Streitkräfte angeht, und alle klar hinter der Ukraine stehen.

Für Moskau ist all das also vergebene Liebesmüh?
Ganz genau.

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