
© AFP/MUHAMMAD HAJ KADOUR
Rebellen rücken in Syrien vor: Assad verliert Aleppo – und droht mit „Vernichtung“
Für den Diktator wird die Lage trotz russischer Luftangriffe zunehmend kritischer. Aufständische kontrollieren nun nicht nur die Millionenstadt, sondern haben wohl auch weitere Orte eingenommen.
Stand:
Die Dschihadistengruppe Hajat Tahrir al-Scham (HTS) und mit ihr verbündete Gruppierungen haben ihren Vormarsch im Norden Syriens fortgesetzt. Nach den schwersten Kämpfen seit Jahren hat die syrische Regierung von Machthaber Baschar al-Assad Aktivisten zufolge nun die Kontrolle über Aleppo verloren.
„Erstmals seit Beginn des Konflikts im Jahr 2012 ist die Stadt Aleppo nicht mehr unter der Kontrolle der syrischen Regimekräfte“, sagte der Chef der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, Rami Abdel Rahman, am Sonntag der Nachrichtenagentur AFP mit Blick auf die zweitgrößte syrische Stadt. Assad kündigte an, den „Terrorismus“ zu „vernichten“.
Der Chef der Syrischen Beobachtungsstelle erklärte weiter, in Aleppo kontrollierten die Kämpfer der dschihadistischen Gruppe Hajat Tahrir al-Scham (HTS) und mit ihr verbündete Gruppierungen nunmehr fast das gesamte Stadtgebiet – mit Ausnahme derjenigen Viertel, die unter der Kontrolle kurdischer Kämpfer stünden.
Nach Angaben der Aktivisten haben die Rebellen auch die Kontrolle über den Flughafen von Aleppo übernommen. Zehntausende Menschen seien infolge der Entwicklungen auf der Flucht, hieß es in der Mitteilung. In Aleppo stünden mittlerweile „Regierungszentren und Gefängnisse“ unter der Kontrolle der Dschihadisten gab die Beobachtungsstelle weiter an.

© AFP/MOHAMMED AL-RIFAI
Die Rebellen hätten weite Teile der Stadt „ohne nennenswerten Widerstand“ erobern können. Zum Schutz der Bevölkerung verhängten sie eine Ausgangssperre, die bis zum Sonntagnachmittag dauern sollte.
Außerdem kontrollierten die Kämpfer nach Angaben der Beobachtungsstelle „dutzende“ strategisch bedeutende Orte in den Provinzen Idlib und Hama. Dabei seien die Rebellen auf „keinerlei Widerstand“ gestoßen. Den Angaben zufolge zogen sich die Regierungstruppen auch aus Hama zurück, der viertgrößten Stadt Syriens, die etwa 140 Kilometer südlich von Aleppo liegt.
Die Dschihadistengruppe HTS, der syrische Ableger des Terrornetzwerkes Al-Kaida, und ihre Verbündeten hatten am Mittwoch eine überraschende Großoffensive gegen die Streitkräfte der syrischen Regierung gestartet. Bei den heftigsten Kämpfen seit 2020 wurden laut der Beobachtungsstelle bislang mehr als 370 Menschen getötet. Die Allianz islamistischer Rebellen nennt ihre neue Offensive „Abschreckung der Aggressionen“.
Die syrische Regierung von Präsident al-Assad bestätigte am Samstag, die Kontrolle über große Teile der Millionenstadt Aleppo an Rebellen verloren zu haben. Es sei „terroristischen Organisationen“ gelungen, in weite Teile Aleppos einzudringen, hieß es in einer von der Staatsagentur Sana verbreiteten Mitteilung der syrischen Streitkräfte.
Sollte Aleppo dauerhaft an die Aufständischen fallen, wäre das ein herber Schlag für Assad, der seine Macht mithilfe russischer und iranischer Unterstützung in den vergangenen Jahren wieder festigen konnte. Die Offensive der Rebellen stellt eine bemerkenswerte Entwicklung dar in dem seit 2011 andauernden Bürgerkrieg, da sich die Fronten zuletzt wenig verändert hatten.
Am Sonntag kündigte Assad eine machtvolle militärische Antwort auf den Vormarsch der Dschihadisten an. Die „Zerschlagung des Terrorismus“ diene der Stabilität und Sicherheit der gesamten Region, sagte Assad nach Angaben der syrischen Präsidentschaft bei einem Treffen mit dem iranischen Außenminister Abbas Araghtschi in Damaskus.
Russland greift weiter aus der Luft an
Bei russischen und syrischen Luftangriffen nahe Aleppo gab es syrischen Angaben zufolge Opfer unter oppositionellen Kämpfern. Dutzende seien „getötet und verletzt“ worden, meldete die Staatsagentur Sana unter Berufung auf syrische Armeekreise am Sonntagabend. Damaskus habe die Angriffe auf den Stadtrand eines Ortes südöstlich von Aleppo zusammen mit Moskau ausgeführt. Die genaue Opferzahl war zunächst unklar.
Einwohner der betroffenen Stadt Al-Safira sagten der Deutschen Presse-Agentur, Rebellen hätten den rund 25 Kilometer von Aleppo entfernten Ort inzwischen auch eingenommen. Die Angaben ließen sich zunächst allesamt nicht unabhängig überprüfen.

© AFP/MUHAMMAD HAJ KADOUR
Iran sichert Assad Unterstützung zu
Der Iran sicherte der mit ihm verbündeten Führung in Damaskus seine unerschütterliche Unterstützung zu. Er werde von Teheran nach Damaskus reisen, um der syrischen Regierung und ihren Streitkräften die Botschaft der Unterstützung seines Landes zu „übermitteln“, zitierte die staatliche Nachrichtenagentur Irna am Sonntag Irans Außenminister Abbas Araghtschi vor dessen Abreise nach Damaskus. „Wir unterstützen die Armee und die Regierung in Syrien nachdrücklich“, sagte Araghtschi demnach.
Er sei sicher, dass die syrische Armee „diese terroristischen Gruppen“ erneut besiegen werde, „wie in der Vergangenheit“, sagte der Minister weiter.
Der jordanische König Abdallah II. betonte am Sonntag in einer Mitteilung die Unterstützung der „territorialen Integrität, Souveränität und Stabilität“ Syriens.
Die US-Regierung macht die Abhängigkeit der syrischen Staatsführung von Russland und dem Iran mitverantwortlich dafür, dass Regierungstruppen der Rebellen-Offensive im Nordwesten des Bürgerkriegslandes nicht standhalten konnten.
USA dementieren Beteiligung an Offensive
Zudem habe al-Assad mit seiner Weigerung, sich auf einen politischen Prozess zur Befriedung des Konflikts einzulassen, die Bedingungen für die derzeitige Situation geschaffen, erklärte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats im Weißen Haus, Sean Savett. „Gleichzeitig haben die Vereinigten Staaten nichts mit dieser Offensive zu tun.“
Das wird jetzt sehr viele Menschenleben wieder kosten.
Daniel Gerlach, Nahost-Experte
Der Nahost-Experte und Autor Daniel Gerlach geht davon aus, dass die syrische Regierung in der nächsten Woche mit einer Gegenoffensive beginnen wird. Der Deutschen Presse-Agentur sagte er: „Das wird jetzt sehr viele Menschenleben wieder kosten.“ Gerlach hält es für möglich, dass die Regierung wieder die Oberhand gewinnt.
Zwar seien die Verbündeten Assads, Iran und Russland, geschwächt, beziehungsweise hätten nicht die Kapazitäten wie zuvor. Trotzdem verfüge die syrische Regierung über Einheiten, die in der Lage seien, Häuserkämpfe zu führen. Die Strategie, sich zunächst zurückzuziehen und dann mit erfahrenen Einheiten zurückzuschlagen, sei in den vergangenen Jahren immer wieder zu beobachten gewesen, sagt er.
Russland griff 2015 ein – dann kam der Ukraine-Krieg
Russland griff 2015 in den syrischen Bürgerkrieg ein und trug mit seiner überlegenen Luftwaffe dazu bei, dass Präsident Assad seine wankende Machtstellung wieder festigen konnte. Inzwischen kontrolliert seine Regierung wieder zwei Drittel des Landes.
Wegen des Ukraine-Kriegs verringerte Moskau aber ab 2022 seine Truppenpräsenz in Syrien. Eine politische Lösung für den Konflikt ist nicht in Sicht. Infolge des Bürgerkriegs sind Millionen Syrer ins Ausland geflohen – viele auch nach Deutschland.
Derweil eroberten von der Türkei unterstützte Rebellen in Nordsyrien nach heftigen Kämpfen den Ort Tal Rifat. Kräfte der Kurdenmiliz YPG hätten sich aus der Stadt im Norden Aleppos, die sie zuvor kontrolliert hätten, zurückgezogen, meldeten die protürkischen Rebellen. Auch kurdische Militärkreise bestätigten die Entwicklung. Demnach versuchen die kurdischen Kräfte derzeit noch, kurdische Zivilisten aus der Stadt zu holen.
Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit Sitz in Großbritannien übernahmen die von Ankara unterstützten Rebellen auch weitere Orte in der Gegend. Derzeit sitzen noch rund 200.000 Kurden dort fest. Diese fürchteten sich vor Massakern durch die protürkischen Rebellen.
Die von der YPG angeführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) kontrollieren große Gebiete in Nordsyrien. Die Türkei will seit langem den Einfluss kurdischer Milizen an ihrer Grenze schwächen. Laut Beobachtern nutzen nun von der Türkei unterstützte Gruppen die unübersichtliche Situation ihrerseits für Angriffe auf die YPG aus. (dpa, AFP)
- Al-Qaida: News & Hintergründe zum Terror-Netzwerk
- Aleppo
- Geflüchtete
- Großbritannien
- Iran
- Krieg in der Ukraine
- Menschenrechte
- Russland
- Syrien
- Terrorismus
- USA
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: