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Michel Barnier dankt nach dem verlorenen Misstrauensvotum seinen wenigen Mitstreitern im Parlament.

© AFP/ALAIN JOCARD

Sturz der französischen Regierung: Alle zeigen mit dem Finger auf die anderen

Frankreich steht wieder am gleichen Punkt wie im Sommer: Koalitionen und Kompromisse sind verpönt, schuld sind immer die anderen.

Andrea Nüsse
Ein Kommentar von Andrea Nüsse

Stand:

Gehen Sie zurück auf Los! So lautet die Ereigniskarte, die das Linken-Grünen-Bündnis und das Rechtsextreme Rassemblement National am Mittwochabend in der französischen Nationalversammlung gespielt haben. In ungewöhnlicher Einigkeit haben sie die Minderheitenregierung von Michel Barnier zu Fall gebracht.

Damit steht Frankreich wieder da, wo es im Sommer, nach den überraschend von Präsident Emmanuel Macron vorgezogenen Neuwahlen, bereits stand: Vor dem Rätsel, wie ein Land, das keine Koalitionen kennt, regiert werden soll, wenn kein politisches Lager eine Mehrheit hat.

Nur gibt es heute eine Gewissheit mehr: Präsident, Parlamentarier und Politiker wollen das auch nicht üben.

Macrons „Ursünde“

Vielleicht ist Präsident Macron jetzt seine „Ursünde“ um die Ohren geflogen: dass er einen Premier aus den Reihen der Wahlverlierer ausgesucht hat.

Um jeden Preis hat er eine Premierministerin des Linken-Grünen-Bündnisses verhindert, das als Sieger, aber ohne Parlamentsmehrheit aus den Wahlen hervorgegangen war.

Lucie Castets war vom Linken-Grünen-Bündnis, der stärksten Gruppe im Parlament, als Premierministerin vorgeschlagen worden. Macron lehnte sie ab.

© AFP/Francois Lo Presti

Das hat das Bündnis ihm nicht verziehen und zielte mit dem Sturz des Konservativen Barnier auch auf Macron.

Alle haben sich verrechnet

Begründet hatte Macron seine Wahl damals formal damit, dass eine Linken-Regierung sofort gestürzt würde. Nun ist das einer rechten Regierung widerfahren. Neuwahlen hatte er nach eigenen Angaben ausgerufen, um klare Verhältnisse zu schaffen und einem Misstrauensantrag der konservativen Opposition wegen des Haushalts im Herbst zuvorzukommen. Hat nicht funktioniert.

Wahrscheinlich hat sich auch Barnier verrechnet. Sein extrem konservativer Innenminister hat in Sachen Einwanderung eine sehr Marine Le Pen nahe Politik gemacht.

Der Noch-Premier selbst ist zwar erst spät den Forderungen Marine Le Pens für das Sozialbudget nachgekommen, jeden Tag ein wenig mehr, hat sich vor ihr hertreiben lassen – allerdings hat sie es ihm nicht gedankt, sondern ihn gestürzt. Weil das in ihre persönliche Agenda besser passte.

Marine Le Pen versucht am Abend der Abstimmung, sich im französischen Fernsehen staatsmännisch zu geben.

© AFP/STEPHANE DE SAKUTIN

Das eigentlich Erschütternde, das in der Aussprache vor der Abstimmung noch einmal deutlich wurde, aber ist: Jede politische Gruppe hat einen (anderen) Schuldigen für das Schlamassel ausgemacht. Politische Kompromisse werden weiterhin als unethisch verpönt. Dabei wird wohl auch künftig kaum eine Partei eine absolute Mehrheit im Parlament erringen.

Vorschlag für das Unwort des Jahres

Nicht einmal der „gemeinsame Sockel“ hat funktioniert. Dieser neue Begriff für die lose Verbindung von Macronisten, Liberalen und moderat Konservativen, die eigentlich Barnier unterstützen sollte, ist eindeutig das Unwort des Jahres. Geeint war man nur im Schlussapplaus beim Abgang Barniers nach dem verlorenen Misstrauensvotum.

Selbst in dieser absolut verfahrenen Situation ist von Koalitionen nicht die Rede. Ex-Premier Gabriel Attal hat eine Art Nichtangriffspakt aller Parteien des „republikanischen Bogens“, also ohne Le Pens Partei vorgeschlagen – noch so ein schöner Begriff. Keine großen Vorhaben, aber auch kein Misstrauensvotum.

Nur: Wieso sollte man sich angesichts der konträren Vorstellungen jetzt auf ein Haushaltsgesetz einigen? Das hört sich eher so an, als wolle man nur irgendwie durchhalten, bis frühestens im Juli verfassungsgemäß wieder Parlamentswahlen möglich sind.

Kontrast zu Olympia und Wiederaufbau von Notre-Dame

Weil sich Präsident und Politiker nicht an die neuen Gegebenheiten anpassen wollen, befindet sich Frankreich in einer institutionellen Krise. Oder man müsste eben das Mehrheitswahlrecht abschaffen, die völlig freie Hand des Präsidenten bei der Wahl eines Premiers. Aber auch dazu braucht man eine Regierung.

Am Wochenende wird Notre-Dame de Paris wiedereröffnet – in Anwesenheit von Donald Trump. Ein Coup für Macron, der aber auch noch einen neuen Premier finden muss.

© AFP/Dimitar Dilkoff

Die Olympischen Spiele im Sommer in Paris hatten die Welt beeindruckt. Dieses Wochenende wird die durch einen Brand zerstörte Kathedrale Notre-Dame de Paris nach nur fünf Jahren wiedereröffnet – eine in Deutschland undenkbare Bauleistung. Beides sind beeindruckende kollektive Anstrengungen. Aber es gibt keine demokratisch-politischen.

So debattieren jetzt Verfassungsrechtler, was aus den drei vorliegenden Budget-Gesetzen für 2025 wird.

Kommt ein Premier, der de facto eine rechtsextreme Politik macht, um Le Pen zu befrieden? Und werden Macronisten und Liberale ihn um der Regierungsstabilität willen dulden?

Daran hat Le Pen jedoch gar kein Interesse. Sie hat das Chaos gewählt, um vorgezogene Präsidentschaftswahlen zu erzwingen. Erneut in totaler Harmonie mit dem Linkspopulistischen Jean-Luc Mélenchon.

Allerdings ist schwer vorstellbar, dass Macron zurücktritt. Nach seiner Fernsehansprache am heutigen Donnerstagabend weiß man vielleicht mehr. Bleibt Frankreich also handlungsunfähig bis zum Sommer?

Oder gar bis zu den Präsidentschaftswahlen 2027, für die bereits jetzt viele Parteivorsitzende ihr Profil schärfen und daher nicht zu politischen Kompromissen breit sind? Mon dieu!

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