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Übergangspräsident fordert Alawiten zur Kapitulation auf: Aktivisten werfen syrischen Regierungstruppen „Massaker“ an 745 Zivilisten vor
Drei Monate nach dem Sturz des syrischen Langzeitherrschers Assad kommt es in dessen früheren Hochburgen zu heftigen Kämpfen. Jetzt will die Übergangsregierung die Vorfälle untersuchen lassen.
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Nach Berichten über Hunderte getötete Zivilisten hat die syrische Übergangsregierung zugesagt, die Vorfälle rund um die schweren Kämpfe in der Küstenregion untersuchen zu lassen. Sie bildete dazu ein unabhängiges Komitee, wie das Präsidialamt am Sonntag mitteilte.
Dem Ausbruch der Gewalt in Syrien zwischen Anhängern des gestürzten Langzeitherrschers Baschar al-Assad und den neuen Machthabern sind nach Schätzung von Aktivisten bereits mehr als 1000 Menschen zum Opfer gefallen.
Sicherheitskräfte der islamistischen Übergangsregierung hätten dabei regelrechte „Massaker“ unter den Angehörigen der religiösen Minderheit der Alawiten und ihren Verbündeten angerichtet, zu der auch Ex-Präsident al-Assad gehört. Unter den Getöteten seien 745 Zivilisten, berichtete die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte am Samstagabend. Die in London ansässige Organisation warf den regierungstreuen Kämpfern zudem Plünderungen vor.
Das Blutvergießen hatte am Donnerstag begonnen. Laut der neuen Machthaber hatten bewaffnete Anhänger der gestürzten Assad-Regierung Sicherheitskräfte in der Nähe der Küstenstadt Dschabla in der mehrheitlich von Alawiten bewohnten Provinz Latakia überfallen.
Am Freitag verkündete die islamistische Übergangsregierung den Beginn eines „großangelegten“ Einsatzes, der auf „die Überreste von Assads Milizen und ihre Unterstützer“ ziele.
Den jüngsten Angaben der in Großbritannien ansässigen Beobachtungsstelle zufolge, die den Konflikt über ein Netzwerk von Informanten verfolgt, soll es in der Provinzhauptstadt auch in der Nähe zweier Krankenhäuser zu Gefechten mit Toten auf beiden Seiten gekommen sein. Die Opferzahlen könnten weiter steigen.
Die Angriffe der Aufständischen schienen koordiniert zu sein, schrieb das Institut für Kriegsstudien (ISW) in Washington. Am Freitag verlegte die Übergangsregierung deswegen größere Truppenkontingente in die Region. Seitens der Regierungstruppen seien Artilleriegeschütze, Panzer und Raketenwerfer eingesetzt worden, hieß es.
Angst unter den Alawiten
Vor allem unter den Alawiten seien Angst und Schrecken weit verbreitet, sagte ein Bewohner. „Es gibt viele Übergriffe und Tötungen aufgrund der Religionszugehörigkeit. Es kommt auch zu Diebstählen“, schilderte er.
Ein Augenzeuge in der Stadt Banias, wo allein 60 Menschen getötet worden sein sollen, sagte der dpa am Telefon, es herrsche totales Chaos. „Unschuldige Menschen, die unbewaffnet waren, wurden entweder in ihren Häusern oder davor vor den Augen ihrer Familien erschossen“, so der Mann, der aus Angst vor Repressalien nicht namentlich genannt werden wollte.

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Unter den Todesopfern seien auch Frauen und Kinder, berichtete die in Großbritannien ansässige Beobachtungsstelle für Menschenrechte, die den Konflikt über ein Netzwerk von Informanten verfolgt. Sie sprach von Massakern in 29 Orten der Gouvernements Latakia, Tartus, Hama und Homs und warf Kämpfern der islamistischen Übergangsregierung Kriegsverbrechen vor.
Die Region im Westen Syriens ist mehrheitlich von Mitgliedern der religiösen Minderheit der Alawiten bewohnt. Während der jahrzehntelangen Herrschaft des Assad-Clans waren dort die Hochburgen von dessen Anhängern.
Von der Beobachtungsstelle veröffentlichte Videoaufnahmen zeigten Dutzende vor einem Haus aufgestapelte Leichen in Zivilkleidung. Blutlachen und weinende Frauen waren zu sehen. Weitere Aufnahmen zeigten Männer in Militäruniform, die aus nächster Nähe auf Menschen schossen.
Auch seien mindestens 93 Kämpfer der neuen Regierung sowie 120 Assad-treue Kämpfer getötet worden. Die Beobachtungsstelle bezieht ihre Informationen von einem Netzwerk von Aktivisten vor Ort. Ihre Angaben können oft nicht unabhängig überprüft werden.
Die Anhänger des gestürzten al-Assad würden versuchen, diese Morde zu nutzen, um Minderheitengruppen zu mobilisieren, heißt es in einem Bericht des ISW. Seit ihrer Machtübernahme hat die neue syrische Führung wiederholt versichert, die Minderheiten im Land zu schützen. Vor allem unter den Alawiten wachse aber das Gefühl, dass die Interimsregierung der neuen islamistischen Machthaber sie unterdrückt und ausgrenzt.
Für Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa sind die Auseinandersetzungen die erste große Prüfung. Der frühere Rebellenchef hatte sich am Freitagabend an die Bevölkerung gewandt und erklärt, Überbleibsel der Ex-Regierung hätten mit ihren Angriffen versucht, „das neue Syrien zu testen“.
Al-Scharaa drängte die Assad-Anhänger zur Kapitulation. Die alawitischen Kämpfer müssten sich ergeben, „bevor es zu spät ist“, sagte al-Scharaa. „Sie haben sich gegen alle Syrer gewandt und einen unverzeihlichen Fehler begangen. Der Gegenschlag ist gekommen.“
Übergangspräsident al-Scharaa erklärte zudem, dass jeder, der Übergriffe gegen Zivilisten begehe, hart bestraft werde. Berichte über Massaker erwähnte er jedoch nicht. Die Übergangsregierung werde sich weiterhin dafür einsetzen, dass lediglich staatliche Vertreter über Waffen verfügen. Es werde keinen unkontrollierten Waffenbesitz mehr geben.
Versorgung der Bevölkerung wird schwieriger
Die Beobachtungsstelle in Großbritannien rief die internationale Gemeinschaft zum dringenden Handeln auf und forderte die Entsendung von Experten, um Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren.
Zudem appellierte sie an die syrischen Behörden in der Hauptstadt Damaskus, die Verantwortlichen für die berichteten Hinrichtungen zur Rechenschaft zu ziehen. In Latakia sei es außerdem zu Ausfällen bei der Strom- und Wasserversorgung gekommen. Bäckereien hätten die Produktion eingestellt und Märkte seien geschlossen, was es der Bevölkerung immer schwerer mache, sich zu versorgen, hieß es von der Beobachtungsstelle.
Nachbarländer sind besorgt
Syriens Nachbarländer machen sich angesichts der schwierigen Sicherheitslage in der Region Sorgen: Die Außen- und Verteidigungsminister sowie die Geheimdienstchefs der Türkei, Jordaniens und des Irak treffen sich daher heute in der jordanischen Hauptstadt Amman mit ihren syrischen Kollegen, um über Sicherheitsbedrohungen, Terrorismusbekämpfung und organisierte Kriminalität zu sprechen, wie türkische diplomatische Quellen mitteilten.
Als ein Fokus der Gespräche gelten auch die Extremisten der Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Tausende IS-Kämpfer werden in Gefängnissen im Nordosten Syriens festgehalten.
Auswärtiges Amt fordert Ende der „Spirale der Gewalt“
Das Auswärtige Amt in Berlin hatte am Freitag ein Ende der Spirale der Gewalt gefordert. „Wir sind schockiert angesichts der zahlreichen Opfer in den westlichen Regionen Syriens“, erklärte das Auswärtige Amt am Freitag im Onlinedienst X.
„Wir rufen alle Seiten auf, friedliche Lösungen, nationale Einheit, einen umfassenden politischen Dialog und eine Übergangsjustiz anzustreben, um die Spirale der Gewalt und des Hasses zu durchbrechen“, hieß es in dem Beitrag weiter. (AFP, dpa, Reuters)
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