
© AFP/Andriy Andriyenko
Ukraine-Invasion, Tag 1350: Viele Verstümmelungen bei Soldaten wären vermeidbar, sagt der ukrainische Chefchirurg
Russland ruft ukrainische Truppen in Pokrowsk und Kupjansk zur Kapitulation auf, Ukraine bestreitet Einkesselung, Putin erwägt Atomwaffentests. Der Überblick am Abend.
Stand:
Mehrere 10.000 ukrainische Soldaten sind mit fehlenden Gliedmaßen von der Front zurückgekehrt – viele von ihnen werden für den Rest ihres Lebens Unterstützung benötigen.
Dabei wären viele Schicksale in ihrem Ausmaß vermeidbar, erklärt der Chefchirurg der ukrainischen Armee dem britischen „Telegraph“. Denn bis zu einem Viertel dieser Amputationen seien auf die unsachgemäße Verwendung eines einfachen medizinischen Hilfsmittels zurückzuführen: Aderpressen, auch Tourniquets genannt.
Der Hintergrund: Die derzeitige Doktrin der Ukraine orientiert sich an der Art und Weise, wie die USA und ihre Verbündeten mit Verwundeten im Irak und in Afghanistan umgegangen sind. Nicht nur der ukrainische Chefchirurg vermutet allerdings, dass diese Doktrin nicht zum Ukraine-Krieg passt.
„Als es 2022 zur groß angelegten russischen Invasion kam, wurden alle amerikanischen Richtlinien zur taktischen Kampfverletztenversorgung ins Ukrainische übersetzt“, erklärt Rom Stevens, ein ehemaliger Arzt der US-Marine, dem „Telegraph“. „Aber sie wurden für einen anderen Krieg geschrieben.“ Er muss es wissen, war er doch an der Überarbeitung der offiziellen amerikanischen Militärrichtlinien zum Einsatz von Tourniquets beteiligt – und ist jetzt regelmäßig ehrenamtlich in der Ukraine tätig.
Er habe in der Ukraine miterlebt, welche Folgen es hat, wenn Tourniquets bei Verletzungen falsch eingesetzt und zu lange angelegt würden, so Stevens. „Ich habe eine große Anzahl sehr hoher Amputationen bei jungen Männern gesehen, die ansonsten gesund sind. Oft kann man keine Prothese anpassen, weil die Amputationen so hoch sind“, sagt er.
Das Ausmaß der Amputationen unter Männern im erwerbsfähigen Alter werde weitreichende Auswirkungen haben, die über Generationen hinweg anhalten würden – das gelte auch für Russland. „Ich habe mit Hunderten von ukrainischen Ärzten und Krankenschwestern gesprochen“, sagt Stevens. „Ihre Herzen sind gebrochen wegen dieser jungen Patienten, die in der Blüte ihres Lebens stehen und für den Rest ihres Lebens behindert sind.“
Die wichtigsten Nachrichten des Tages
- Russland hat die ukrainischen Truppen in Pokrowsk und Kupjansk zur Kapitulation aufgerufen. Die Soldaten seien eingekesselt und hätten keine andere Überlebenschance, hieß es in Moskau. Nach eigenen Angaben rücken die russischen Truppen dort weiter vor. Mehr dazu im Newsblog.
- Der ukrainische Generalstab bestreitet eine Einkesselung der benachbarten ukrainischen Frontstädte Pokrowsk und Myrnohrad im Osten der Ukraine – doch der russische Würgegriff scheint enger zu werden. Berichte von Soldaten vor Ort deuten auf eine dramatische Lage hin. Mehr dazu hier.
- Der russische Präsident Wladimir Putin hat die Ankündigung von US-Präsident Donald Trump, Atomwaffentests wieder aufzunehmen, als „ernste Angelegenheit“ bezeichnet. Wenn andere Länder solche Tests machten, werde Russland entsprechend antworten. Deshalb weise er führende Militärvertreter an, Vorschläge für solche Tests vorzulegen.
- Die nordeuropäische Militärkoalition Joint Expeditionary Force (JEF) hat ein Partnerschaftsabkommen mit der Ukraine abgeschlossen. Kiew erhalte somit den Status einer „erweiterten Partnerschaft“ mit den zehn JEF-Staaten, erklärte der britische Verteidigungsminister John Healey am Mittwoch am Rande eines Treffens der Koalition in Norwegen.
- Der Gouverneur der russischen Region Wladimir, Alexander Awdejew, hat auf Telegram einen Drohnenangriff auf eine Energieinfrastrukturanlage bestätigt. Zuvor waren Videos von nächtlichen Explosionen und Bränden auf der Anlage kursiert, wo sich auch das für das Moskauer Stromnetz wichtige Hochspannungsumspannwerk „Wladimirskaja“ befindet.
- Von den 43 Unternehmen, die an der Produktion der russischen Aufklärungs- und Kampfdrohne „Orion“ beteiligt sind, sollen ukrainischen Angaben zufolge ein Drittel bislang nicht von den Ländern der Sanktionskoalition erfasst worden sein. Dadurch könne Russland weiterhin kritische Komponenten für seine Waffenproduktion beziehen, teilte der Militärnachrichtendienst der Ukraine (HUR) mit.
- Nach wiederholten ukrainischen Angriffen auf russische Erdölraffinerien hat Russland die Einberufung von Reservisten zum Schutz der Energieinfrastruktur im Land genehmigt. Putin setzte ein zuvor vom Parlament verabschiedetes Gesetz in Kraft, das den Weg für den Einsatz von Reservisten an „unverzichtbaren Einrichtungen“ frei macht.
- Die Europäische Kommission warnt vor einer Verzögerung bei der Verabschiedung des sogenannten „Reparationskredits“ für die Ukraine. Das berichtet die Nachrichtenagentur „Reuters“. Falls sich eine Einigung weiterhin verzögere, müsse die EU für Anfang 2026 möglicherweise eine Übergangslösung finden, um die Finanzierung der Ukraine aufrechtzuerhalten.
- Nach Ansicht einiger Analysten könnte Trump dazu in der Lage sein, den ungarischen Premierminister Viktor Orbán dazu zu bewegen, sein Veto gegen die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine aufzugeben. Das berichtete die US-amerikanische Denkfabrik und überparteiliche Organisation „Atlantic Council“.
- Die Bundesregierung will ihre Ukraine-Hilfen im kommenden Jahr deutlich erhöhen. Ein Sprecher des Finanzministeriums erklärte, Finanzminister Lars Klingbeil werde in Abstimmung mit Verteidigungsminister Boris Pistorius über die Bereinigungsvorlage weitere drei Milliarden Euro Unterstützung für die Ukraine in das parlamentarische Verfahren zum Haushalt 2026 einbringen.
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