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Während einer Ausstellung im Artilleriemuseum ist der russische Präsident Wladimir Putin auf einem Fernsehbildschirm zu sehen.

© dpa/DMITRI LOVETSKY

Ukraine-Invasion Tag 362: Sechs Zahlen zeigen, wo Russlands größte Herausforderungen derzeit liegen

Die Belarus-Pläne des Kreml, Giorgia Meloni besucht Kiew, Biden und Putin mit Grundsatzreden. Der Überblick am Abend.

Stand:

Wladimir Putin hat die Welt heute in gewisser Weise überrascht. Er kündigte keine weitere Eskalation des Krieges an, keine neue Offensive auf Kiew, keinen Kriegseintritt von Belarus. Stattdessen ging es in seiner knapp zweistündigen Rede an die Nation am Vormittag viel um das Thema Wirtschaft (hier die Details).

Putin gab den Russinnen und Russen einen durchaus optimistischen Blick in die Zukunft. Gut, muss er auch, mag man denken, der Mann hat das Land schließlich in einen Krieg manövriert, der für ihn alles andere als gut läuft. Trotzdem kann man fragen: Wie begründet ist Putins Ausblick, wie lange kann sein Land den Krieg durchhalten? 

Dieser Frage haben sich auch sieben Journalisten der britischen „Financial Times“ in einer ausführlichen Analyse gewidmet (hier geht es zum Artikel). Ihr Fazit: „Putins Kriegsmaschine steht unter enormem Druck und wird es wahrscheinlich nicht schaffen, groß angekündigte Offensiven in der Ukraine umzusetzen. Aber Russland hat die Ressourcen, um den Krieg noch eine ganze Weile zu führen.“

Zugrunde liegt der Analyse ein Blick auf den Zustand der russischen Armee, die Munitionsreserven Moskaus, die finanziellen Ressourcen des Kreml und die öffentliche Meinung. Hier sechs der vielen spannenden Erkenntnissen aus dem Artikel:

  • Die russische Rüstungsindustrie läuft unter Volllast im Dreischichtsystem, trotzdem wird es wohl nicht gelingen, die Verluste in der Ukraine zeitnah zu ersetzen. So hat Russland rund die Hälfte seiner moderneren Panzer verloren. 
  • Zwar gibt es bei vielen Komponenten Lagerbestände, die bis 2025 reichen, aber für die Produktion von modernen Waffensystemen fehlen jetzt schon die entsprechenden Teile aus dem Westen. 
  • Auch die Lagerbestände an Raketen und Artilleriegeschossen gehen zur Neige. Den aktuellen hohen Verbrauch kann Russland nur noch wenige Monate bedienen. 
  • Russland erhöht seine Verteidigungsausgaben für 2023 drastisch auf einen Anteil von 30 Prozent am Gesamtbudget. 
  • Gleichzeitig könnten die Einnahmen aus dem Verkauf von Energierohstoffen um rund ein Viertel sinken. Insgesamt machen die Einnahmen aus dem Verkauf von Erdöl und Erdgas rund 40 Prozent der Einnahmen Russlands aus.
  • Vor dem Krieg verfügte Russland über rund 270.000 kampfbereite Soldaten. Nach der letzten Mobilisierung von rund 300.000 Männern, gibt es jetzt wohl noch ein Potenzial von rund einer Million möglichen Rekruten in Russland. Die Pläne des Kreml, die Zahl der kampfbereiten Soldaten in den kommenden Jahren auf rund 700.000 Mann zu erhören, halten Experten für unrealistisch.

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

  • „Versuch, die Wagner-Gruppe zu zerstören“: Auf einer Tonaufnahme wettert der Chef der Söldnergruppe, Prigoschin, wutentbrannt gegen den Kreml. Es ist der bisher direkteste Angriff auf den russischen Verteidigungsminister Schoigu. Mehr hier.
  • Russland plant offenbar Übernahme von Belarus bis 2030: Moskau will das Nachbarland Belarus einem Medienbericht zufolge politisch, wirtschaftlich und militärisch unterwandern. Experten schätzen das Dokument als glaubwürdig ein. Mehr hier.
  • Chinas Außenminister besorgt über Eskalation des Ukraine-Krieges: Peking ist laut Qin Gang „tief besorgt, dass der Konflikt eskaliert und sogar außer Kontrolle geraten könnte“. Kritik an Russland übt der Minister weiterhin nicht. Mehr hier.
  • Nachtzug und diskrete Wagenkolonne: Bei dem überraschenden Besuch Joe Bidens in Kiew gab es enorm hohe Sicherheitsvorkehrungen. Nun ist klar, auf welchem Weg der US-Präsident in die Ukraine gekommen ist. Mehr hier. 
  • Täglich werden in der Ukraine vier Kinder getötet oder verletzt: Kinder leiden besonders unter dem Krieg der Ukraine. Die tatsächliche Zahl der Todesopfer dürfte noch viel höher liegen, schätzt „Save the Children“. Mehr hier.
  • Der russische Präsident Wladimir Putin hat nach Einschätzung von Mychajlo Podoljak, des Beraters des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, den Bezug zur Realität verloren. „Er befindet sich in einer völlig anderen Realität, in der es keine Gelegenheit gibt, einen Dialog über Gerechtigkeit und Völkerrecht zu führen“, sagt Podoljak. Mehr in unserem Liveblog.
  • Die Nato hat den russischen Präsidenten Wladimir Putin zur Achtung des Atomwaffen-Kontrollvertrags „New Start“ aufgerufen. Bündnis-Generalsekretär Jens Stoltenberg appellierte am Dienstag in Brüssel an Putin, „seine Entscheidung zu überdenken und geltende Verträge zu achten“. Putin hatte zuvor in seiner Rede zur Lage der Nation in Moskau angekündigt, den letzten verbliebenen Atomwaffen-Kontrollvertrag mit den USA auszusetzen.
  • Das russische Außenministerium hat US-Botschafterin Lynne Tracy einbestellt. Der Botschafterin sei mitgeteilt worden, dass der derzeitige aggressive Kurs der Vereinigten Staaten die Konfrontation mit Russland in allen Bereichen vertiefe und kontraproduktiv sei, erklärte das Außenministerium in Moskau. Es warf der US-Regierung vor, ihre Verwicklung in den Ukraine-Konflikt auszuweiten. 
  • Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni ist am Dienstag zu einem Besuch in Kiew eingetroffen. Dies teilte ein Sprecher Melonis nach ihrer Ankunft in der ukrainischen Hauptstadt mit. Laut Medienberichten stand ein Treffen mit Präsident Wolodymyr Selenskyj für den Nachmittag an. Zuvor wollte Meloni demnach „Symbolorte“ des ukrainischen Widerstandes besuchen. 
  • Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, hat die hohe Opferzahl in der Ukraine seit Beginn des russischen Angriffskriegs verurteilt. Man habe 8006 Todesopfer unter der Zivilbevölkerung registriert sowie fast 12 300 Verletzte, teilte das Büro des Hohen Kommissars für Menschenrechte am Dienstag in Genf mit. Die wahre Zahl liege mit Sicherheit höher, erklärte Türk. 
  • Die Hilfsorganisation Care rechnet damit, dass rund ein Drittel der Menschen in der Ukraine in den kommenden Jahren psychologische Betreuung braucht, um mit den Folgen des russischen Angriffskrieges fertig zu werden. Rund 15 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer benötigten psychologische Hilfe, teilte Care am Dienstag in Bonn mit Verweis auf Erkenntnisse des ukrainischen Gesundheitsministeriums mit. 
  • Der ukrainische Botschafter in Berlin, Oleksii Makeiev, hat Kanzler Olaf Scholz (SPD) aufgefordert, sich dazu zu bekennen, dass sein Land den Krieg gegen Russland gewinnen müsse. „Ich hoffe sehr, dass der Bundeskanzler das zum Ausdruck bringt“, sagte Makeiev den Sendern RTL und ntv. Tatsächlich würden der Kanzler und die Bundesregierung eigentlich längst das tun, was dem entspreche. 
  • Der Raketenangriff auf den überfüllten Bahnhof von Kramatorsk im April vergangenen Jahres in der Ukraine ist nach einem Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) von russischen Truppen verübt worden und muss als „Kriegsverbrechen“ eingestuft werden. „Dieser Angriff stellt eine Verletzung des Kriegsrechts und ein mutmaßliches Kriegsverbrechen dar“, erklärte HRW in einer am Dienstag veröffentlichten Untersuchung, die zusammen mit der Recherchegruppe SITU erfolgte. 
  • Der Chef der russischen Söldner-Truppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, wirft Verteidigungsminister Sergej Schoigu vor, seine Einheiten zerstören zu wollen. Schoigu und der Generalstabschef entzögen seinen Kämpfern die Munition, sagt Prigoschin in einer Sprachnachricht auf seinem Telegram-Kanal. Das komme einem Verrat gleich. 
  • Die Regierung in Belarus sieht nach eigenen Angaben die militärische Sicherheit des Landes durch die ukrainische Armee direkt bedroht. Es würden derzeit in bedeutendem Umfang ukrainische Truppen in unmittelbarer Nähe der gemeinsamen Grenze zusammengezogen, teilt das belarussische Verteidigungsministerium auf dem Kurznachrichtendienst Telegram mit. „Die Wahrscheinlichkeit von bewaffneten Provokationen, die zu Zwischenfällen an der Grenze eskalieren können, ist seit langem hoch.“ 
  • Nach Beobachtung britischer Geheimdienste hat im Ukraine-Krieg zuletzt die Beschädigung von Schulen und Krankenhäusern zugenommen. Im Januar seien vermehrt medizinische Einrichtungen und Bildungsinstitutionen getroffen worden, hieß es am Dienstag im täglichen Kurzbericht des britischen Verteidigungsministeriums. Dies habe größtenteils wahrscheinlich damit zu tun, dass Russland Artillerie und andere Waffensysteme wahllos einsetze. Dabei würden auch immer wieder Zivilisten getötet.
  • Der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter hat davor gewarnt, dass die aggressive Politik von Russlands Präsident Wladimir Putin nicht auf die Ukraine beschränkt ist. Es sei für Deutschland wichtig, nicht Kriegspartei zu werden, „aber Kriegsziel sind wir schon“, sagte Kiesewetter am Dienstag dem Sender rbb. Wichtig sei zudem die Stabilisierung weiterer bedrohter Staaten, besonders nannte er die Republik Moldau.
  • Der Politikwissenschaftler Carlo Masala rechnet damit, dass der Ukraine-Krieg letztlich am Verhandlungstisch beendet werden wird. „Auf dem Schlachtfeld werden die Voraussetzungen für Verhandlungen geschaffen. Das ist mein Punkt“, sagte der Militärexperte von der Universität der Bundeswehr in München in einem Interview der Deutschen Presse-Agentur.
  • Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat sich kurz vor dem ersten Jahrestag des russischen Einmarschs in sein Land siegesgewiss gezeigt. Die Ukraine werde diese „historische Konfrontation“ gewinnen, sagte Selenskyj am Montagabend in einer Videoansprache. „Der Aggressorstaat, der sich immer mehr zu einem Terrorstaat entwickelt, wird für seine Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden.“ Die gesamte freie Welt helfe Kiew, die Freiheit, Unabhängigkeit und internationale Rechtsordnung zu verteidigen.
  • Die Ukraine hat nach Angaben des Kiel Instituts für Weltwirtschaft (IfW) mindestens ein Viertel der zugesagten schweren Waffen vom Westen noch nicht erhalten. „Die Geberländer haben bisher zwischen 65 und 75 Prozent der zugesagten schweren Waffen an die Ukraine geliefert“, sagte IfW-Experte Andre Frank den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland. Noch größer sei der Verzug bei den Finanzhilfen der beiden größten Geldgeber USA und EU. „Bisher wurden nur etwa die Hälfte ihrer Zusagen ausgezahlt.“

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