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Das humanitäre Völkerrecht wird nicht nur im Gazakrieg missachtet.

© Anadolu via Getty Images/Anadolu

Was ist das Völkerrecht noch wert?: Wir stehen vor dem Scherbenhaufen unserer Illusion

Hamas-Überfall und Krieg in Nahost, Annexionskrieg in der Ukraine: Das internationale Recht wird derzeit überall missachtet. Ein Völkerrechtler legt seine Verzweiflung darüber offen.

Ein Gastbeitrag von Christoph Safferling

Stand:

Vor einem Jahr erschütterte uns die Nachricht von dem Massaker der Hamas-Terroristen an fröhlich feiernden jungen Jüdinnen und Juden und Bewohnern der Kibbuzim. Mord, Vergewaltigung, Verschleppung und Geiselnahme an diesem Tag im Oktober 2023 zeigen einen Hass und eine Menschenverachtung, die uns im Mark erschüttern und den Glauben an die Menschheit grundsätzlich infrage stellen.

Das, was den Menschen ausmacht, ist doch gerade seine Fähigkeit, sich von Vernunft leiten zu lassen, die Würde des anderen zu respektieren und Konflikte durch Regeln und Dialog zu lösen. Davon war an diesem Tag nichts zu sehen.

Die Souveränität eines Staates ist nichts mehr wert

Seitdem werden die Terroristen gejagt, die Zivilbevölkerung als Schutzschilde missbraucht oder zu „Kollateralschäden“ herabgestuft, während die Geiseln weiter festgehalten werden. Ein Jahr nach dem schlimmsten Verbrechen an Juden seit dem Holocaust befinden wir uns am Rande eines Flächenbrandes, der das Potenzial hat, die ganze Region zu verwüsten.

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Am 24. Februar 2022 überschritten Truppen der russischen Föderation die Grenze zur Ukraine in der Absicht, mit Waffengewalt wenigstens Teile der Ukraine zu annektieren.

Die Grundregel des Völkerrechts, die Souveränität jedes einzelnen Staates zu achten, wurde mit einem festen Fußtritt weggetreten. Seitdem werden sinnlos Soldaten verheizt und die Zivilbevölkerung wird terrorisiert. Sichtbar sind weder militärische noch diplomatische Fortschritte.

Wir, die wir uns nach Ende des Kalten Krieges nicht nur als die wirtschaftlichen, sondern auch als die moralischen Sieger fühlten, stehen vor dem Scherbenhaufen unserer Illusion.

Der Illusion, dass Menschenrechte ein überzeugendes Konzept sind, das weltweit auf Akzeptanz stoßen muss; dass unser Vorbild alle anderen von der Überlegenheit der Demokratie als Staatsform überzeugen würde; dass die Völkerrechtsordnung stabil genug ist, um Kriege zwischen Staaten zu unterbinden und Antworten zu finden auf schwere humanitäre Katastrophen.

Viele positive Schritte seit Mauerfall

Nach dem Fall der Mauer sah es auch fast zehn Jahre lang danach aus, als ließe sich der Traum von der friedlichen Koexistenz der Völker und dem Respekt der Menschenrechte durchsetzen, als böten die Vereinten Nationen einen zuverlässigen rechtlichen und institutionellen Rahmen zur Lösung internationaler Konflikte.

Die Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag 2002 war noch von dem Glauben geprägt, dass Recht und Regeln die Welt besser machen.

© Peter Dejong/AP/dpa

Viele Schritte wurden auch erfolgreich gegangen: Die Universalität der Menschenrechte wurde gestärkt, der Internationale Strafgerichtshof (IstGH) wurde eingerichtet, humanitäre Krisen wurden gemeinsam bekämpft, Konzepte wurden entwickelt, um Staaten beim Übergang von Bürgerkriegen und Diktaturen hin zu liberalen Demokratien zu unterstützen.

Der 11. September 2001 beendete diese Entwicklung

Aber spätestens mit dem 11. September 2001 wurde klar, dass unsere Hoffnung Risse hat und brüchig ist. Zehn Jahre westlicher Truppenpräsenz in Afghanistan endeten in einer Katastrophe für Demokratie und Menschenrechte.

Taliban-Kämpfer feiern den Jahrestag des Abzugs der US-geführten Truppen aus Afghanistan. Die in dem Land regierenden Islamisten schränken stetig die Freiheiten weiter ein.

© dpa/Siddiqullah Alizai

Die Folgen des Arabischen Frühlings, mit dem jahrelangen Schießen und Morden in Syrien und den angrenzenden Staaten, verdeutlichen, dass auch die alte Mauer zwischen Ost und West wieder sehr präsent ist. Die Verzweiflung vieler Flüchtlinge, die sich zu tausenden auf den Weg nach Europa machen, führt auch hier zu einer Krise von Demokratie und Grundrechten, wenn die Gesellschaften deutlich nach rechts rücken.

Mehr Prozesse, weniger Respekt für das Recht

Schauen wir uns um. Fragen wir uns, wo die verlässlichen Werte sind, und – wenn es sie noch gibt – wer setzt sie durch? Sind die Menschenrechtskonventionen, die Protokolle des humanitären Völkerrechts, die Nürnberger Prinzipien des Völkerstrafrechts das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben stehen?

Zugleich wurde aber noch nie so viel vor dem Internationalen Gerichtshof prozessiert wie heute. Noch nie wurde von einem Internationalen Strafgericht in einem andauernden bewaffneten Konflikt ein Haftbefehl gegen einen Staatspräsidenten eines der mächtigsten Staaten der Welt erlassen.

Die Macht der Gewalt ist aktuell größer als die Macht der Vernunft und des Rechts.

Christoph Safferling, Völkerrechtler

Das scheint aber kein Ausdruck des Respekts vor Gesetzen und Gerichten zu sein. Kämpfe werden nicht bis zum Ende der gerichtlichen Verfahren ausgesetzt.

Haftbefehl wird mit Haftbefehl beantwortet

Im Gegenteil, Staaten überziehen sich wechselseitig mit Verfahren, um politisch Druck zu machen; Haftbefehle werden mit Haftbefehlen gegen die verantwortlichen Richter und Staatsanwälte beantwortet.

Der israelische Premier Netanjahu bezeichnete den Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes, Karim Ahmad Khan, als einen „der großen Antisemiten der Moderne“. Der Brite hatte Haftbefehle gegen Netanjahu und Hamas-Führer Sinwar beantragt.

© dpa/Peter Dejong

Russlands Präsident Putin stellte einen Haftbefehl gegen Richter des Internationalen Strafgerichtshofes aus, nachdem gegen ihn selbst Haftbefehl erlassen worden war. Der ehemalige US-Präsident Trump verhängte Einreiseverbote gegen Personal des Gerichtshofes, als dieser gegen die CIA in Afghanistan ermittelte.

„Lawfare“ heißt das Stichwort zur Beschreibung des Kampfs mit den Mitteln des Rechts in Analogie zur „warfare“, dem Kampf mit militärischen Mitteln.

Zum Wiederaufbau wird das Völkerrecht gebraucht

Ist das Völkerrecht also am Ende? Am Ende wohl nicht, aber es kann gerade seine ordnende Funktion kaum ausüben, außer dass es ein Forum für diplomatischen Austausch bietet. Die Macht der Gewalt ist aktuell größer als die Macht der Vernunft und des Rechts.

Das ist in der Menschheitsgeschichte nicht neu. Nach dem 30-jährigen Krieg fand der Westfälische Frieden eine neue Völkerrechtsordnung.

Nach dem Ende der Napoleonischen Kriege wurde Europa im Wiener Kongress neu geordnet und nach der größten Katastrophe der Menschheit, dem Zweiten Weltkrieg, wurde im Nürnberger Prozess das Völkerrecht neu definiert und die Würde des Menschen und der Schutz der Zivilisation ins Zentrum der Völkerrechtsordnung gestellt.

Am Ende wird die Vernunft siegen und das Recht wird seine ordnende Kraft entfalten können, weil anders ein Wiederaufbau nicht möglich ist. Aber gerade ist es unerträglich.

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