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Die Industrie in Deutschland und der EU droht hinter internationaler Konkurrenz zurück zu bleiben.

© dpa/Jens Büttner

Wirtschaftsstandort Europa bedroht: Unternehmen machen zu wenig Gewinn

Der zersplitterte Kapitalmarkt und zu wenig Investitionen in Wachstumsmärkte werden gefährlich. Bald überholt Kalifornien Deutschlands Wirtschaftskraft. Was sich ändern muss.

Ein Gastbeitrag von Jörg Rocholl

Besser als erwartet und schlechter als möglich: So lautet das Fazit zum Zustand der deutschen und europäischen Wirtschaft am Ende dieses „Zeitenwende“-Jahres. Besser als erwartet, weil keines der Horrorszenarien – tiefe Rezession oder gar das Ende des deutschen und europäischen Wirtschaftsmodells – eingetreten ist. Die Prognosen für das Jahr 2023 sagen, wenn überhaupt, nur eine leichte Rezession voraus.

Angesichts der enormen Herausforderungen infolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine sowie Europas großer Abhängigkeit von Gas und anderen fossilen Energieträgern sind das gute Nachrichten. Sie zeigen die enorme Anpassungsfähigkeit des marktwirtschaftlichen Systems, in dem viele dezentrale Entscheidungen dafür sorgen, dass die Wirtschaft sich schnell auf neue Herausforderungen einstellt.

Diese systemische Stärke sollte Zuversicht geben im Wettstreit mit dem zentral gesteuerten System Chinas, das mit der verheerenden Null-Covid-Politik gerade an seine Grenzen gerät.

Unter den 100 wertvollsten Unternehmen ist kein deutsches

Gleichzeitig aber schneiden die deutsche und europäische Wirtschaft im internationalen Vergleich deutlich schlechter als möglich ab. Studien zeigen, dass US-Unternehmen weltweit die höchsten Gewinne und besten Umsatzrenditen erzielen. Sie liegen deutlich vor den deutschen und europäischen Unternehmen. Unter den 100 wertvollsten Unternehmen der Welt sind kaum europäische und kein einziges deutsches Unternehmen vertreten.

Schlimmer noch: Konzerne wie der Gasespezialist Linde entscheiden sich, dem Börsenplatz Frankfurt den Rücken zu kehren. Deutschland und Europa verlieren so zunehmend den Anschluss an die internationale Konkurrenz.

Wegen der geringen Börsenbewertung wächst überdies die Gefahr, von ausländischen Wettbewerbern übernommen zu werden.

Ein neuer transatlantischer Handelskonflikt wäre aus Putins Perspektive besser als erwartet – für Europa und die USA weitaus schlechter als möglich.

Jörg Rocholl, ESMT Berlin

Eine dauerhafte Gewinnschwäche gegenüber außereuropäischen Konkurrenten bedroht nicht nur europäische Unternehmen, sondern auch den Wirtschaftsstandort. Es ist daher keine Überraschung, dass der US-Bundesstaat Kalifornien mit seinen großen Technologieunternehmen Deutschland bald in puncto Wirtschaftskraft überholen dürfte – und das mit weniger als der Hälfte der Bevölkerung.

Trotz genügend Kapital fehlt es an Investitionen

Die Gründe für dieses Zurückfallen sind breit diskutiert worden, die daraus abzuleitenden wirtschaftspolitischen Reaktionen fallen aber nach wie vor zu schwach aus. Das beginnt mit dem Kapitalmarkt, das europäische Finanzsystem ist nach wie vor zu zersplittert, um gegenüber den USA wettbewerbsfähig zu sein. Investitionen in Wachstumsunternehmen hinken deutlich hinter den USA hinterher und werden in Europa sogar häufig mit US-Kapital finanziert, obwohl es auf dem alten Kontinent genügend Kapital gibt.

Diese Schwäche hat unmittelbare Auswirkungen: Europa kann zwar in der Grundlagenforschung mit den USA und anderen Weltregionen mithalten, die Investitionen in Bereichen wie Life Science liegen zum Teil sogar über dem amerikanischen Niveau. Geht es aber um die Vermarktung der Erfindungen, verkehrt sich der europäische Vorsprung in einen Rückstand.

Fatalerweise gilt dies insbesondere für die Wachstumsphase innovativer Unternehmen, also gerade dann, wenn die wahre Wertschöpfung eintritt und große ökonomische Gewinne entstehen. Deshalb muss die europäische Wirtschaftspolitik alles daransetzen, diesen Nachteil kraftvoll auszugleichen, vor allem durch eine Stärkung des Binnenmarkts.

Wirtschaftspolitische Initiative treibt EU und USA tendenziell auseinander

In der Gründungszeit der Europäischen Union symbolisierte das Ende der Grenzschlagbäume das Zusammenwachsen des Kontinents. Heute müssen die weniger sichtbaren, aber umso wirkungsmächtigen Barrieren im Finanz- und Kapitalmarkt abgeräumt werden – zumal sich eine weitere mögliche Bedrohung abzeichnet.

Die US-Regierung hat mit dem Inflation Reduction Act (IRA) eine ebenso ambitionierte wie zukunftsweisende wirtschaftspolitische Initiative auf den Weg gebracht: Hunderte von Milliarden Dollar sollen in die Bereiche Klima und Energie investiert werden. Ob und in welchem Maße dabei auch europäischen Unternehmen zum Zug kommen können, darum wird nach heftigen Protesten vor allem aus Paris und Berlin derzeit noch gerungen.

Bislang sieht es so aus, dass der IRA als protektionistische Initialzündung für neue und weitere Handelsbeschränkungen zwischen Europa und den USA wirken könnte – und das zu einem Zeitpunkt, in dem die Einigkeit zwischen Europa und den USA wegen des russischen Angriffskriegs so wichtig ist wie seit Jahrzehnten nicht mehr.

Eigentlich sollte Im industriepolitischen Verhältnis zwischen Europa und den USA genau das gelten, was auch für die europäischen Finanz- und Kapitalmärkte gilt: Eine weitere Integration der Märkte wäre für alle Beteiligten die beste Lösung – und würde mögliche europäische Gegenmaßnahmen zum IRA erübrigen.  

Ein neuer transatlantischer Handelskonflikt wäre nämlich nur aus Wladimir Putins Perspektive besser als erwartet – für Europa und die USA aber weitaus schlechter als möglich.

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