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Zensur statt Zweisamkeit: Erdogan verbietet Dating-Apps in der Türkei
Der türkische Präsident hat das „Jahr der Familie“ ausgerufen – und lässt jetzt harmlose Dating-Apps verbieten. Nur Tinder bleibt von Erdogans Sperre befreit. Warum?
Stand:
Die türkische Regierung will Online-Flirts verbieten. Auf Antrag der staatlichen Internetbehörde sperrten Gerichte in Ankara jetzt 29 Flirt- und Dating-Plattformen. Regierungskritiker werten die Beschlüsse als weitere Einschränkung der Meinungsfreiheit.
Anhänger von Präsident Recep Tayyip Erdogan begrüßen die Entscheidungen. Der türkische Staatschef hat 2025 zum „Jahr der Familie“ erklärt und kritisiert häufig einen Sittenverfall durch das Internet.
Die Gerichte begründeten ihre Urteile mit einem Gesetz, das Zugangssperren für Internetseiten oder Apps unter anderem wegen der Verbreitung von Obszönitäten oder wegen Prostitution erlaubt. Den konkreten Grund für die Verbote nannten die Gerichte nicht.
Unter den betroffenen Plattformen sind Azarlive, LivU und Tango, die in der Türkei zusammengenommen mehrere Millionen Nutzer haben.
Insgesamt nutzt laut Medienberichten fast jeder Zehnte der 85 Millionen Türken Flirt- und Dating-Apps. Nach einer Mitteilung des Verbandes für Freie Meinungsäußerung (Iföd) hatten Gerichte in Ankara schon Ende vergangenen Jahres einige Verbote gegen Dating-Apps ausgesprochen.
Tinder bleibt zugänglich
Nutzer türkischer Internetforen kritisierten die neuen Sperren als Versuch der Regierung, die junge Generation zu schikanieren. „Was werden die noch alles verbieten, wenn wir uns nicht wehren?“, hieß es in einem Kommentar.
Weil die juristischen Verfahren nicht transparent seien, bleibe die Motivation hinter den Urteilen im Dunkeln, sagt der Jura-Professor und Internetexperte Yaman Akdeniz von der Istanbuler Bilgi-Universität dem Tagesspiegel. Ungeklärt ist auch, warum Tinder, eine der größten Dating-Apps weltweit, von dem Verbot in der Türkei verschont bleibt.
„Wir wissen sicher, dass die türkischen Behörden willkürlich den Zugang zu Internetseiten und Plattformen sperren“, sagte Akdeniz. Auch weltweit beliebte Seiten wie die Gaming-Plattform Roblox, die E-Buch-Seite Wattpad und die Kommunikations-Plattform Discord seien in der Türkei seit mehr als einem Jahr nicht erreichbar.
Rund 1,3 Millionen Internetseiten, Online-Berichte und Konten auf sozialen Medien sind nach Iföd-Angaben in der Türkei gesperrt, rund 300.000 mehr als Ende 2023. Insgesamt haben dem Verband zufolge mehr als 30 staatliche Institutionen das Recht, Zugangssperren zu verhängen.

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Zuletzt hatten türkische Richter landesweit den Zugang zu Grok gesperrt, dem Chatbot mit Künstlicher Intelligenz des US-Unternehmers Elon Musk. Sie begründeten dies mit Beleidigungen gegen Erdogan, Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk und dem Propheten Mohammed in Antworten des Chatbots. Die Staatsanwaltschaft Ankara leitete strafrechtliche Ermittlungen ein.
Erdogan will junge Familien mit günstigen Krediten unterstützen
Erdogan-Anhänger unterstützen die neuen Verbote der Flirt-Apps. „Mehr davon!“, schrieb ein Leser der regierungstreuen Zeitung „Yeni Safak“. Die Zeitung wertete die Gerichtsentscheidungen als Maßnahmen gegen Internetplattformen, „die die Familiengründung erschweren und den Kontakt zwischen jungen Leuten negativ beeinflussen“.
Aus Erdogans Sicht ist die Institution Familie ständigen Angriffen aus dem Internet und Organisationen von LGBTQ-Gruppen ausgesetzt. Er beklagt unter anderem, dass die Türken immer länger warten, bevor sie heiraten, und dann immer weniger Kinder bekommen.
Laut amtlicher Statistik heiraten türkische Männer heute mit durchschnittlich 28 Jahren; zu Beginn des Jahrhunderts lag ihr Heiratsalter bei 26. Bei Frauen stieg das Durchschnittsalter bei der Hochzeit von 23 auf heute 26 Jahre.
Die Geburtenrate in der Türkei fiel seit dem Beginn von Erdogans Regierungszeit 2003 von durchschnittlich 2,2 Kindern pro Frau auf heute 1,5. Der Staatschef fordert von seinen Bürgern mindestens drei Kinder pro Familie, um das Land vor der Vergreisung zu bewahren. Er selbst hat vier Kinder.
Die fortschreitende Digitalisierung schwäche „menschliche Werte“ und fördere den Egoismus, sagte Erdogan im Mai. Im „Jahr der Familie“ will seine Regierung gegen diesen Trend kämpfen. So sollen die Türken mit günstigen Krediten für junge Ehepaare animiert werden, früher als bisher eine Familie zu gründen. Flirt- und Dating-Apps sind der Regierungspartei AKP deshalb zuwider.
Die Regierung erwecke den Eindruck, dass sie mit den Verboten ihre islamisch-konservative Wählerbasis ansprechen wolle, die wegen veränderten Geschlechterrollen und sexuellen Gewohnheiten verunsichert sei, sagt Murat Somer, Politologe an der Özyegin-Universität in Istanbul. Das sei aber vor allem Fassade.
„Das sind nur Lippenbekenntnisse, denn die herrschende Elite ist zutiefst korrupt und hat keine religiösen oder säkularen Werte, die sie verteidigen will“, sagte Somer dem Tagesspiegel.
Er vermutet, dass andere Motive im Spiel seien. „Vielleicht betreiben Unternehmen mit Verbindungen zur AKP ähnliche Apps und wollen die Konkurrenz ausschalten.“
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