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Kurz vor Heiligabend werden in Deutschland viele Gefangene frühzeitig entlassen. 

© Getty Images, Bearbeitung: Tagesspiegel

Zwischen Menschlichkeit und Macht: Was ist das bloß, diese Gnade?

Die gnadenbringende Weihnachtszeit wird gerade vielerorts besungen, zugleich ist in den USA zu besichtigen, wie Begnadigungen zum Mittel der Politik degradiert werden. Wie passt das zusammen?

Malte Lehming
Ein Essay von Malte Lehming

Stand:

Es ist ein seltsames Ritual. Kurz vor Heiligabend öffnen sich in Deutschland viele Gefängnistüren. Im ganzen Land werden Gefangene frühzeitig entlassen. Allein in Berlin profitieren in diesem Jahr 97 Menschen von der Weihnachtsamnestie. Allerdings ist es eher eine Gnadenshow, denn begnadigt werden nur Inhaftierte, deren Haftzeit ohnehin zum Jahreswechsel endet. Wenige Tage weniger: Darauf läuft es hinaus.

Eine Gnadenshow ist auch das Ritual in den USA. Kurz vor Thanksgiving begnadigt der Präsident einen oder zwei Truthähne. In diesem Jahr wurden „Pfirsich“ und „Blüte“ davor bewahrt, geschlachtet zu werden. Zigtausend andere Truthähne hatten weniger Glück und landeten im Ofen.

Spektakulär hingegen war Bidens Massen-Begnadigung am 12. Dezember. Fast 1500 Menschen entließ der US-Präsident aus dem Hausarrest. Es war die größte Begnadigungsaktion eines US-Präsidenten an nur einem Tag. Sie sollte, wie es hieß, Bidens Bemühungen widerspiegeln, „Familien zusammenzuführen, Gemeinschaften zu stärken und Menschen wieder in die Gesellschaft zu integrieren“.

Begnadigen, das kommt von Gnade. Wenn ein Pferd alt ist und nicht mehr leistungsfähig, wird ihm das „Gnadenbrot“ erteilt. An Heiligabend freuen sich Christen im Lied „O Du Fröhliche“ über eine „gnadenbringende Weihnachtszeit“. Im Gedicht „Weihnachten“ von Joseph von Eichendorff, das Kinder in kulturbürgerlichen Kreisen vor dem Tannenbaum aufsagen müssen, wird in der Schlusszeile ebenfalls die „gnadenreiche Zeit“ gepriesen.

Was auch immer sie ist: Die Gnade scheint etwas Edles zu sein. Aber sie ist es nicht uneingeschränkt. In den USA ist sie in den Strudel einer polarisierten Politik geraten. Kann sich ein Präsident selbst begnadigen? Das ist seit der Amtszeit von Richard Nixon umstritten – und seit den Verfehlungen von Donald Trump akut.

Kurz vor Thanksgiving begnadigt der US-Präsident traditionell einen Truthahn.

© AFP/Drew Angerer

Kann sich ein Präsident selbst begnadigen?

Möglich wäre, dass sich der Präsident unter Berufung auf den 25. Zusatzartikel zur Verfassung als vorübergehend amtsunfähig erklärt, woraufhin das Begnadigungsrecht an den Vizepräsidenten übergeht, der den Akt dann vollziehen kann. Das wäre ein legaler Missbrauch eines außergewöhnlichen Rechts.

Genau 50 Tage vor Ende seiner Amtszeit hat Joe Biden seinen Sohn Hunter begnadigt, obwohl er das vorher kategorisch ausgeschlossen hatte. Bill Clinton hatte das Begnadigungsrecht genutzt, um seinen Halbbruder Roger zu begnadigen. Donald Trump begnadigte in seiner ersten Amtszeit Charles Kushner, den Vater seines Schwiegersohnes Jared Kushner. Alle Begnadigten hatten sich etwas zu Schulden kommen lassen.

Der Bundespräsident übt im Einzelfall für den Bund das Begnadigungsrecht aus.

Grundgesetz, Artikel 60

Schon wird spekuliert, ob Biden in den letzten verbleibenden Wochen seiner Amtszeit präventiv auch Personen begnadigt, die gegen Trump opponiert hatten und nun befürchten, dass dieser sich an ihnen rächt. Dazu gehören Corona-Experte Anthony Fauci, General Mark Milley, der Trump als „Faschisten“ bezeichnet, und Liz Cheney, die prominenteste Kritikerin Trumps innerhalb der Republikanischen Partei.

Trump will Teilnehmer des Sturms auf das Kapitol begnadigen

Trump wiederum hat angekündigt, gleich am ersten Tag seiner neuen Amtszeit als US-Präsident Teilnehmer des Sturms auf das Kapitol am 6. Januar 2021 zu begnadigen. Einige von ihnen verbüßen langjährige Haftstrafen.

Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021

© AFP/SAUL LOEB

Das Begnadigungsrecht kann als Herrschaftsinstrument missbraucht werden – um Macht zu demonstrieren, Loyalität zu belohnen, Familienbande zu stärken, Abhängigkeiten zu schaffen. Es kann aber auch als Akt der Vergebung eingesetzt werden, sodass „Gnade vor Recht“ ergeht und Delinquenten vorzeitig eine zweite Chance gewährt wird.

Der Unterschied zwischen Brauch und Missbrauch liegt in der Frage, ob es selbstlose gute Taten gibt. In den abrahamitischen Religionen ist die Gnade ein Geschenk Gottes, das dieser ohne Gegenleistung und Vorbedingung, also unverdient, gewährt. Man muss sich ihrer nicht würdig erweisen. Dieses Geschenk besteht aus Begriffen wie Heil, Liebe, Güte, Vergebung. Die Segensbitte am Ende eines christlichen Gottesdienstes lautet: Gott sei Dir gnädig!

Im Judentum wird aus der Gnade „das Geben von Güte“ abgeleitet (Gemilut Hasadim). Analog zu Gottes Gnadenakt müssen die Gebote von den Gläubigen um ihrer selbst willen befolgt werden: die Nackten kleiden, die Hungrigen speisen, die Toten beerdigen, die Kranken besuchen. Eigennutz oder die Erwartung, etwas dafür zu erhalten, darf keine Rolle spielen.

Der Wert einer moralischen Handlung liegt nicht in der Wirkung oder den Beweggründen, sondern einzig und allein in der Befolgung der Pflichten.

Immanuel Kant in „Metaphysik der Sitten“

Moral als Pflicht, ob religiös oder säkular begründet: Auch für Immanuel Kant ist gut allein die Tat, die um ihrer selbst willen geschieht. „Der Wert einer moralischen Handlung liegt nicht in der Wirkung oder den Beweggründen, sondern einzig und allein in der Befolgung der Pflichten“ („Metaphysik der Sitten“).

Kalkül oder Eigennutz dürfen keine Rolle spielen

So etwas wie Altruismus gibt es nicht, erwidern die Rationalisten. Jeder Mensch denke zunächst an sich, wolle mit einer Handlung etwas erreichen oder sich selbst verwirklichen. In dieser Um-zu-Argumentation hat jede Tat instrumentellen Charakter. Der Handelnde sei immer auf die Wirkung seiner Handlung bedacht.

Janusz Korczak war polnischer Arzt, Lehrer und Schriftsteller. Im August 1942 begleitete er freiwillig die 192 Kinder seines jüdischen Waisenhauses aus dem Warschauer Ghetto ins nationalsozialistische Vernichtungslager Treblinka, obwohl er wusste, dass das auch für ihn den Tod bedeutete. Das war eine selbstlose Tat.

Donald Trump vor Gericht: Kann sich ein US-Präsident selbst begnadigen?

© AFP/WIN MCNAMEE

Wer aus der Gnade heraus handelt, hilft, um zu helfen, ist treu, um treu zu sein, hält sein Wort, um sein Wort zu halten. Ob es nützt oder schadet, ist unerheblich. Da gibt es kein darüber hinaus gehendes Ziel, das Kalkül oder Eigennutz vermuten lässt. Was zählt, ist der innere Wert der Handlung selbst.

Im mechanistischen Weltbild ist dafür kein Platz. Vom schottischen Moralphilosophen Adam Smith stammt das Postulat: „Es ist nicht das Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers, das uns unser Abendessen erwarten lässt, sondern dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen-, sondern an ihre Eigenliebe“ („The Wealth of Nations“).

Ein hohes Maß an Intransparenz

In Deutschland übt das Begnadigungsrecht für den Bund der Bundespräsident aus. Seine Entscheidungen unterliegen keiner Kontrolle und werden in dessen Amtszeit nicht bekannt gegeben. Die Öffentlichkeit erfährt nicht einmal, wie viele Menschen Frank-Walter Steinmeier begnadigt hat. Das habe Gründe im Datenschutz und Persönlichkeitsrecht, heißt es. Die Daten würden erst nach dem Ausscheiden aus dem Amt bekannt gegeben.

Dieses hohe Maß an Intransparenz der Begnadigungspraxis widerspricht allerdings eklatant dem Begriff der Gnade, aus dem sie abgeleitet ist. Kann es sein, dass Steinmeier Parteifreunde, Weggefährten und Familienmitglieder begnadigt hat? Wir wissen es nicht. Dieses Nichtwissen führt dazu, dass sich ein Schatten des Zweifels über die Motivationslagen des Bundespräsidenten legen.

Auf Schuld kann Vergebung folgen

Solche Schatten gibt es in den USA nicht. Von Joe Biden, Donald Trump und anderen US-Präsidenten weiß jeder, wen sie begnadigt haben. Dass auch sie mit ihrer Auswahl den Begriff der Gnade allzu oft entwürdigt haben, ist eine Schande.

Die Gnade ist ein kostbares Gut. Heimlichkeit und Instrumentalisierung beschädigen es. Auf Schuld und Strafe kann Vergebung folgen. Echt ist sie aber nur als selbstloser, voraussetzungsfreier Akt.

Im christlichen Glauben war auch Jesus als Sohn Gottes dessen Geschenk an die Menschen, wie die Gnade. Und für Kinder gilt: Wer sie in die Welt setzt, ohne verzichten zu wollen, scheitert. Wer sie liebt, um von ihnen geliebt zu werden, kann enttäuscht werden. Sie anzunehmen und großzuziehen, erfordert jene Selbstlosigkeit, die Gott mit dem Erweis der Gnade gelehrt hat.

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