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Leningraderinnen nach einem Bombenangriff zur Zeit der Belagerung

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75 Jahre Ende der Leningrad-Blockade: Der organisierte Hungertod von Leningrad

Ein jedem Völkerrecht spottendes Verbrechen: Vor 75 Jahren endete die Belagerung Leningrads durch die deutsche Wehrmacht.

Am 27. Januar 1944 endete die Belagerung Leningrads. Hunderte von Kanonen feuerten Salut, Leuchtmunition erhellte die winterdunkle Stadt und spiegelte sich in den Fluten der Newa. Die Wehrmacht, die den Belagerungsring bis auf ein winziges Schlupfloch zum Ladogasee 872 Tage zuvor geschlossen hatte, war auf dem Rückzug, den sie in den Weiten der Sowjetunion schon seit dem Fall von Stalingrad ein Jahr zuvor hatte antreten müssen. Leningrad, das frühere Sankt Petersburg, wurde von der Propaganda zur „Heldenstadt“ erkoren und von Stalin zugleich niedergehalten. Der Diktator im Kreml fürchtete die aufmüpfige, jederzeit der ideologischen Abweichung verdächtige Stadt, die sich gerade in ihrem unbeugsamen Lebenswillen als widerständig gezeigt hatte.

„Ein Interesse an der Erhaltung auch nur eines Teils dieser großstädtischen Bevölkerung besteht (...) unsererseits nicht“, hieß es in der geheimen Direktive, die der deutschen Kriegsmarine 1941 zum Angriff auf Leningrad mitgeteilt worden war. Die Einladungen zur Siegesfeier waren schon gedruckt, als die Wehrmacht die Außenbezirke überrollt, aber am 8. September 1941 vor den Toren der Stadt Halt gemacht hatte. Doch die Erwartung, die russische Bevölkerung würde vor der unablässig siegenden Wehrmacht bis hinter den Ural flüchten, erfüllte sich nicht. Im Gegenteil. Stalin, darin seinem Gegner gleich, befahl, jeden Meter sowjetischen Bodens zu halten. Eine rechtzeitige Evakuierung der Stadt kam nicht infrage. Auch wenn während der Belagerung rund eine Million Menschen über den vereisten Korridor zum Ladogasee und einige Tausend auch per Flugzeug herausgebracht werden konnten, blieb die Mehrheit der dreieinhalb Millionen Vorkriegsbewohner in der ständig unter Artilleriebeschuss liegenden Stadt. Hinzu kamen hunderttausende Flüchtlinge vom Land, die vom streng rationierten Bezug der kargen Rationen ausgeschlossen waren und als Erste in ihren ungeheizten Notunterkünften hinstarben.

Angehörige und Milizionäre zogen die in Tücher gewickelten Leichen auf Schlitten durch die tief verschneiten Straßen.

Offiziell 649.000 Leningrader verhungerten, nach heutigen Schätzungen eher 900.000, womöglich mehr. Im bitterkalten ersten Winter, der zu Jahresbeginn 1942 die größte Zahl an Opfern forderte, nachdem nicht nur die Lebensmittelversorgung, sondern auch die mit Strom und Wasser zusammengebrochen war, starben die Menschen überall. Sie erstarrten in den ungeheizten Häusern oder auf den Straßen. Angehörige und Milizionäre zogen die in Tücher gewickelten Leichen auf Schlitten durch die tief verschneiten Straßen. Wie viele Tote inmitten des allgegenwärtigen Sterbens nicht mehr erfasst werden konnten, lässt sich nur ahnen. Die allernotdürftigste Versorgung der Stadt wie die Evakuierung der Schwächsten kam ohnehin erst nach dem Schreckenswinter in Gang.

Die Aushungerung Leningrads ergab sich nicht aus dem Kriegsverlauf, sondern war von Hitler und der Wehrmachtsführung von Anfang an gewollt. Die Ernährung der Soldaten des „Unternehmens Barbarossa“, des Angriffs auf die Sowjetunion seit dem 22. Juni 1941, konnte nur aus dem Land und also auf Kosten der Bevölkerung erfolgen. Die katastrophalen Fehleinschätzungen Stalins und der Parteiführung mindestens im ersten Kriegsjahr taten das ihre. Auf die Gefahr der vorrückenden Heeresgruppe Nord war Leningrad ungeachtet seiner exponierten Lage nicht im Geringsten vorbereitet worden. Das mindert nicht das jedem Völkerrecht spottende Verbrechen der deutschen Seite, machte aber sein Ausmaß überhaupt erst möglich.

„Keiner ist vergessen und nichts ist vergessen“, steht auf der Mauer des Leningrader Piskarew-Friedhofs

Es hat, der offiziellen Propaganda zum Trotz, lange gedauert, bis Augenzeugenberichte von der Belagerung verbreitet und gedruckt werden konnten. Die Überlebenden hatten in den nochmals bitteren Nachkriegsjahren anderes zu tun, und der zunehmend paranoide Diktator im Kreml ließ jede Erinnerung an die tatsächlichen Umstände der Hungerjahre unterdrücken. Das im Mai 1946 eröffnete „Museum der Verteidigung Leningrads“ wurde zwei Jahre später buchstäblich zerstört, zahllose Funktionäre, die das Überleben der Stadt organisiert hatten, wurden in einer immer weiter ausgreifenden „Säuberung“ verhaftet, verurteilt, viele von ihnen erschossen. Allein Stalin durfte sich den Ruhm der Rettung Leningrads an die Brust heften.

Mittlerweile gibt es eine Reihe von Büchern, die die Schrecken der Belagerung vor Augen führen. Manche der Eingeschlossenen haben Tagebuch geführt. 1972 erschien Elena Skrjabins „Leningrader Tagebuch“, 1984 die „Aufzeichnungen eines Blockademenschen“ von Lidia Ginsburg, in deren Nachlass sich 2006 der weitere, bedeutende Text „Eine Erzählung von Mitleid und Grausamkeit“ fand. Das 1984 in zensierter Form ersterschienene „Blockadebuch“ von Ales Adamowitsch und Daniil Granin liegt seit 2014 vollständig vor – und nun auch in deutscher Übersetzung (Blockadebuch. Leningrad 1941–1944. Aufbau, Berlin 2018. 703 S. m. 51 Abb., 36 €.).

Granin, der vor fünf Jahren als 95-Jähriger zum Holocaust-Gedenktag, der eben auch der Leningrad-Gedenktag ist, vor dem Deutschen Bundestag sprach, und Adamowitsch haben über Jahre hinweg Augenzeugen befragt, um das Denken und Fühlen der Menschen unter extremer Not zu erfahren und sichtbar zu machen, einschließlich der Grenzbereiche bis hin zum Kannibalismus, den es gegeben hat. Dem gegenüber stehen zahllose Beispiele von Solidarität und Opferbereitschaft, das Teilen noch kleinster Rationen von Brot, ja von Leim oder Schmierfett, das Menschen in ihrer Verzweiflung als Nahrung zu sich nahmen. „Keiner ist vergessen und nichts ist vergessen“, steht auf der Mauer des Piskarew-Friedhofs geschrieben, auf dem Hunderttausende in Massengräbern beerdigt sind. Aufzeichnungen wie das „Blockadebuch“, bewahren diese Erinnerung für alle Zeit.

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