
© IMAGO/Everett Collection
Album von Blood Orange: Schmerz erfüllt die Leere mit Schönheit
Mit Ende 30 wurde Pop-Überflieger Blood Orange noch zum TikTok-Star. Jetzt ist ein zutiefst persönliches Album erschienen, auf dem er den Tod der Mutter betrauert. Eine bewegende Hommage.
Stand:
Die Popmusik hat schon immer von dem Versprechen gelebt, grenzenlos zu sein; beziehungsweise: Grenzen überwinden zu können. Für den Wahl-New-Yorker Dev Hynes, bekannt unter dem Künstlernamen Blood Orange, war die Weite des Pop nie bloß eine Utopie. Sie war überhaupt erst Grundvoraussetzung, um Musik als Medium zu begreifen, das den Menschen in der Welt verortet.
Hynes hat stets mit vollen Händen aus den Möglichkeiten dieses Selbstfindungsprozesses geschöpft; zunächst, damals noch in London, mit der Art-Punkband Test Icicles, später solo, mittlerweile in New York angekommen, als Indiefolk-Barde Lightspeed Champion. Irgendwann hatte er dann verstanden, dass es okay ist, sich an verschiedenen Orten zuhause zu fühlen: und dass Identität als fluides Konzept für ihn am besten funktioniert.
Dev Hynes ist ein wahrer Weltbürger (und Grenzgänger) des Pop, weswegen sein in alle Richtungen diffundierendes Musikverständnis in der Branche schon früh auf breites Interesse stieß. Er hat Songs für Kylie Minogue, Florence + the Machine und Solange Knowles, Beyoncés kleine Schwester, geschrieben, die Musik für interessante Indie-Produktionen wie Luca Guadagninos Miniserie „We Are Who We Are“ produziert und für den viel zu früh verstorbenen Modedesigner Virgil Abloh gemodelt. Er bewegte sich so lange zwischen den Welten und Szenen, bis das Gestaltwandeln künstlerisches Prinzip wurde.
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„Essex Honey“, das vierte Album als Blood Orange und das erste seit sieben Jahren (das Mixtape „Angel’s Pulse“ nicht mitgerechnet), setzt diese Reise nun unter der Erfahrung eines fundamentalen Verlusts fort. Sie führt zurück an den Ort der Kindheit, den ländlichen Speckgürtel von London. Und damit zurück zu dem Gefühl, nirgendwo richtig dazuzugehören, welches Hynes als gefragter musikalischer Sparringspartner für Künstlerinnen und Künstler, die aus eingefahrenen Bahnen ausbrechen wollen, produktiv gemacht hat. 2023 ist seine Mutter gestorben.
Schweifen durch Gefühlszustände
Melancholie grundiert den nachdenklichen, aber nie bedrückenden Tonfall der 14 Songs, die sich wie auf einem Konzeptalbum zu einer zusammenhängenden Geschichte – oder doch eher zu einem Gefühlszustand? – fügen. Als Blood Orange hat Hynes das Schweifen durch Genres und Stimmungen, oft innerhalb eines einzigen Songs, längst zur Kunstform erhoben. Trotzdem klingt „Essex Honey“, und darin besteht vielleicht die größte Kunst, wie aus einem Guss.
Wobei das Wort eine Erstarrung der Form suggeriert, was nicht weiter weg sein könnte von den schwebenden Harmonien, die Hynes strahlend helles, am Soul geschulten Falsett tragen und Pianoakkorde, Saxophonseufzen, Hihat-Klappern und Streicher mit Alltagsgeräuschen verweben. Diese Fülle könnte die Songs leicht erdrücken, aber die Arrangements bleiben immer durchlässig für die Schönheit des reinen Klangs. Selbst seine Worte, die manchmal schwer an ihrer Bedeutung tragen, besitzen diese ätherische Qualität, als könnten sie sich jederzeit vor unseren Ohren auflösen.
Mit „Mind Load“, in denen er die Stimmen von Lorde und Caroline Polachek wie perfekt gestimmte Instrumente einsetzt, dem Souljazz-inspirierten „Vivid Lights“ und dem programatisch betiteten „Countryside“, in einen pastoral-schwermütigen Reverbeffekt gehüllt, hat „Essex Honey“ auch Songs, denen man ganz konventionell Hit-Qualitäten attestieren kann. Aber Hynes geht es um Vertiefung: Kein Song ragt aus seiner immersiven Erzählung heraus.
Pop als bittersüßer Nostalgieverstärker
„What if everything was taken from beneath? / I don’t want to be here anymore“, singt Hynes in „Thinking Clean“ mit einer herzzerreißenden, fast schon transparenten Klarheit in der Stimme; man fühlt sich auch wegen des Cello-Kratzens an einen anderen Pop-Avantgardisten, den viel zu früh verstorbenen Arthur Russell, erinnert.
Der Tod der Mutter hat mit 39 Jahren noch einmal zur grundsätzlichen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit geführt. In „Westerberg“ erinnert er an den Replacements-Sänger, mit einem Songzitat, in dem Paul Westerberg wiederum an Alex Chilton denkt. Pop ist auch ein bittersüßer Nostalgieverstärker.

© imago/Taylor Creek Media
Herkunft hat für die Identität von Hynes heute eine andere Bedeutung als für sein jüngeres Selbst, sie ist nicht mehr bestimmt von der Vergangenheit, sondern dem Streben, die eigenen Begehren und Gefühle ohne Angst zu formulieren. Mit „Essex Honey“ ist dieses Bewusstsein nun voll entwickelt; in anderen Identitätssuchenden, neben Lorde und Polachek auch Tirzah, Amandla Stenberg, Zadie Smith und Ben Watt (Everything But the Girl), hat er prominenten Beistand gefunden.
In der elegischen Piano-Ballade „The Last of England“ spürt er dem Gefühl der Hilflosigkeit aus seiner Kindheit nach, personifiziert in der Mutter. Aber bevor die Violinen zu sehr aufs Gemüt drücken, verwandelt sich der Song in eine treibende Drum’n’Bass-Nummer. Zurück bleibt dennoch eine Leere. „Time has made it seem we can talk / But then they took you away.“
Hynes lässt seine Fans selten so nah an sich herankommen wie in diesen Zeilen. Seine auf verrätselte Weise autobiografischen Texte knüpfen aber auch ganz intuitiv an ein universales Gefühl von Trauer und Einsamkeit an. Es ist geradezu absurd, dass das zutiefst persönliche „Essex Honey“ zu einem Zeitpunkt das Licht der Öffentlichkeit erblickt, an dem Blood Orange mit „Champagne Coast“ von dem 14 Jahre alten Debütalbum „Coastal Grooves“ gerade wieder von den TikTok-Algorithmen in die Charts gespült worden ist. Dev Hynes, ein Pop-Nomade, bewegt sich zwischen allen Grenzen und Szenen. Aber die Welt holt ihn immer wieder ein.
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