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Verhoeven

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Rückblick: Berlinale 1970: Sag mir, wo du stehst

Aufruhr und Abbruch: Warum der Anti-Vietnamkriegsfilm "o.k." 1970 die Berlinale sprengte. Volker Baer erinnert sich.

1970 war ein turbulentes Jahr, ein Jahr der Widersprüche und Umbrüche, der Konfrontationen und der Erwartungen. Es war der Beginn einer konsequenten Entspannungspolitik: Zum zweiten Male trafen sich Bundeskanzler Willy Brandt und der Ministerpräsident der DDR, Willi Stoph. Die Baader-Meinhof-Gruppe machte von sich reden. Der damals noch linksradikale Anwalt Horst Mahler stand vor Gericht. In vielen Ländern Europas herrschte Unruhe. Warum sollten gerade die Berliner Filmfestspiele da eine Ausnahme machen? Zwei Jahre zuvor war das Festival in Cannes von jungen Regisseuren zum Erliegen gebracht worden. In Berlin waren die Bedenken bereits vor Beginn des Festivals groß, es könnte Störungen geben. Im April war es bei den Oberhausener Kurzfilmtagen zu Zerwürfnissen gekommen. Die Jury hatte sich gespalten. Auf der einen Seite standen die Vertreter ästhetischer Kriterien, auf der anderen Seite jene politischer Vorstellungen. Immerhin: Man fand noch einen Kompromiss.

Von einem alles erdrückenden Skandal auf der Berlinale zu sprechen, ist aus heutiger Sicht etwas übertrieben. Skandale gab es viele auf dem Festival. Etwa als sich in den achtziger Jahren ein Bonner Innenminister einzumischen versuchte, um den von ihm gehassten Herbert Achternbusch aus dem Programm zu drängen. Oder als 1976 ein Berliner Staatsanwalt Nagisa Oshimas „Im Reich der Sinne“ aus vorgeblich moralischen Gründen beschlagnahmen ließ. Und schon vor der Berlinale 1970 kam es zu einem Skandal: Das Auswahlgremium hatte Carlos Sauras „Garten der Lüste“ ausgewählt. Die spanische Regierung, der Saura politisch nicht genehm war, schickte einfach einen anderen Film. Das Festival – und die Filmkritik – ließ es sich gefallen.

Die meisten waren offensichtlich abgelenkt durch die Ereignisse rund um Michael Verhoevens Film „o.k.“. Was war geschehen? Ein deutscher Juror entschuldigte sich beim amerikanischen Jury-Präsidenten dafür, dass solch ein Film von der Bundesrepublik in den Wettbewerb geschickt worden sei. Ein anderer deutscher Juror hatte bereits während der Vorführung das Kino verlassen. Nun begann der Teufelskreis der Missverständnisse, der allgemeinen und persönlichen Verdächtigungen, des Misstrauens, der Spekulationen, der Wichtigtuerei, der Halbwahrheiten und auch der Ahnungslosigkeiten.

Auch als Journalist fand man kaum mehr Zeit und Ruhe, ins Kino zu gehen. Wettbewerb und Informationsschau, die Lateinamerika gewidmete Woche des jungen Films sowie die Retrospektive, in deren Mittelpunkt Fred Astaire und Ginger Rogers standen, wurden kaum mehr beachtet. Man eilte von Pressekonferenz zu Pressekonferenz, denn jede der verschiedenen verfeindeten Gruppierungen hielt es für nötig, sich an die Öffentlichkeit zu wenden. Darstellungen und Gegendarstellungen wurden schriftlich unters Volk gebracht. Eine Nachricht überholte die andere. Hatte man in aller Eile einen Artikel geschrieben, war er schon nicht mehr aktuell. Wem sollte man noch vertrauen?

Die Jury war gespalten. Berlinale-Chef Alfred Bauer versuchte, wenig geschickt, zu retten, was zu retten war. Walther Schmieding, der Leiter der Berliner Festspiele, unter deren Dach auch die Berlinale stattfand, lavierte, agierte und agitierte auf seine Weise. Nicht untätig blieben auch der Produzent und der Regisseur des Films. Nach dem Festival benutzten sie den Berlinale-Krach für ihre Werbung. Kritiker mischten, sachverständig oder unsachverständig, kräftig mit. Es war ein Hexenkessel. Wie sollte man da noch, möglichst neutral, einen Standpunkt finden in der allgemeinen Konfusion? Immerhin brachte es der Film, ein damals ganz seltener Fall, auf die Seite 1 der Zeitungen. Auch im Tagesspiegel.

„o.k.“, das Nachspiel in bayerischer Landschaft eines authentischen Falls im Vietnamkrieg, in dem ein Mädchen, ein halbes Kind noch, von amerikanischer Soldateska gequält, vergewaltigt, ermordet wird, brachte in diesen unruhigen Tagen die allgemeine Spannung zur Explosion. Zu einer anderen Zeit hätte es, vermutlich, eine sachliche Debatte gegeben. Der Eklat von 1970 mag als Charakteristikum jener Jahre gelten. Man misstraute den bestehenden Verhältnissen, man war zudem des Bisherigen überdrüssig. Die Berliner Filmfestspiele waren in ihrem 20. Jahr erstarrt. Nicht mehr Stars waren gefragt, nicht mehr beliebige Unterhaltung gewünscht. Der Regisseur, das Thema war, was interessierte. Man begehrte, wie in der Politik so auch in der Kunst, im Film, Veränderungen, Erneuerungen.

Während des Festivals war ein kurzer jugoslawischer Trickfilm zu sehen, in dem ein Strichmännchen sich nach und nach selber auffraß. Daran mochte man am Ende der Berlinale denken. Jeder war froh, dass er die turbulenten Tage hinter sich hatte. Hält man heute die Dokumente von einst, die Erklärungen und Briefe in Händen, so muss man mit dem amerikanischen Jury-Präsidenten George Stevens fragen: War es nun „Farce oder Tragödie“?

Die Eskalation von 1970 war ein Ereignis – mit Nachwirkung: Noch im selben Jahr erhielten die Freunde der Deutschen Kinemathek den Auftrag, das Internationale Forum des Jungen Films zu gründen und unabhängig vom Wettbewerb zu betreuen. Auch wandten sich noch 1970 prominente Namen des Berliner Kulturlebens – darunter Werner Haftmann, der Direktor der Nationalgalerie, und Michael Haerdter, Präsidialsekretär der Akademie der Künste – in einer Denkschrift an den Senat und Bonner Ministerien.

Sie forderten für Berlin ein Filmzentrum als Stätte der Kinemathek, ein Ausstellungsgebäude, einen Treffpunkt. Erst drei Jahrzehnte später wurden diese Visionen – mit dem Filmhaus am Potsdamer Platz – erfüllt. Die Berlinale aber hatte schon ein Jahr später ihre neue Struktur. 1970 war nur ein Funke. Aber er zündete.

Volker Baer war von 1960 bis 1992 Filmredakteur des Tagesspiegels

Volker Baer

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