zum Hauptinhalt
Eine Seite aus Joann Sfars „Der Götzendiener“.

© avant (aus Joann Sfars „Der Götzendiener“)

Autobiografien, Anekdoten, Abenteuer: Fünf empfehlenswerte neue Comics für Alt und Jung

Dramatische Lebensgeschichten, kinderfreundliche Science-Fiction und Neues von Lucky Luke: Aktuelle Titel, die eine Entdeckung wert sind.

Stand:

In jüngster Zeit haben die deutschen Comicverlage wieder zahlreiche lesenswerte Titel veröffentlicht, wir stellen fünf Neuerscheinungen für junge und ältere Leserinnen und Leser vor.

1 Joann Sfar: „Der Götzendiener“

Joann Sfar ist nicht nur einer der populärsten Comiczeichner Europas. Er ist auch einer der produktivsten. Neben Erfolgstiteln wie der philosophischen Reihe „Die Katze des Rabbiners“, der Fantasy-Parodie „Donjon“ und Dutzenden weiteren Bestseller-Comics hat der Franzose zudem mehrere Romane veröffentlicht und wird als Regisseur gefeiert.

Was ihn antreibt, vermittelt der 53-Jährige jetzt in seinem autobiografischen Album „Der Götzendiener“ (aus dem Französischen von Marcel Le Comte, avant, 208 S., 30 €) auf kurzweilige Weise. Es ist eine Liebeserklärung an die Kunst, an das Leben und an seine Mutter. Die starb, als er drei Jahre alt war, fortan zog ihn sein Vater allein auf, wovon er zuvor in seinem voriges Jahr auf Deutsch veröffentlichtem Album „Die Synagoge“ erzählt hat.

Eine Seite aus Joann Sfars „Der Götzendiener“.

© avant

Schon früh wurde die Kreativität für den jungen Joann zum Lebensinhalt, wohl auch, um die große Lücke zu füllen, die seine Mutter hinterlassen hatte. „Zeichnen, das ist das Leben“, sagt Sfar an einer Stelle. In teilweise imaginierten, aber offenbar größtenteils authentischen Szenen gibt er Einblicke in seine Biografie und vermittelt mit viel Witz, wie eine enorme Schaffenskraft und die Freude am Zeichnen sein Leben prägten.

Das Titelbild von „Der Götzendiener“.

© avant

Munter mischt er dabei Themen und Erzählebenen, es geht um Sex und das Judentum, Psychoanalyse und Politik. Sfar ist ein sprunghafter Erzähler, es gibt viele abrupte Themenwechsel und unvollendete Gedanken. Aber seine in einem fast rauschhaft fließenden Skizzenstrich gefertigten Zeichnungen sind so meisterhaft und die von ihm vermittelten Gedanken so anregend, dass man ihm gerne bei seinem mäandernden Monolog folgt. Dazu kommt ein schier unerschöpflicher Humor auch bei sehr ernsten Themen, der dieses Buch zu einer sehr unterhaltsamen Lektüre macht.


2 Titus Ackermann: „Was vom Leben übrig bleibt“

Eine Pistole und ein Exemplar von Hitlers „Mein Kampf“: Das sind zwei der Schlüsselgegenstände, die Titus Ackermann und seine Familie 1989 beim Aufräumen im Haus seines Großvaters fanden, nachdem der gestorben ist. Dass sein Opa lebenslang ein Nazi war, war Titus Ackermann zwar damals schon bewusst. Aber so richtig kannte er den Opa gar nicht, auch wenn er viele Sommerferien bei ihm und der Oma verbracht hat.

Eine Doppelseite aus Titus Ackermanns Mini-Serie „Was vom Leben übrig bleibt“.

© Moga Mobo

Zwei Jahrzehnte später hat sich der Berliner Comicautor auf Spurensuche begeben. In Gesprächen mit seinem Vater, seinem Bruder und seinen Onkels kamen Dutzende Anekdoten zusammen, aus denen sich nach und nach ein klareres Bild des Großvaters ergab. Das Ergebnis seiner Familienforschung veröffentlicht Ackermann jetzt in der vierteiligen Heftreihe „Was vom Leben übrig bleibt“ (je 64. S., kostenlos bzw. 10 € bei Online-Bestellung), herausgegeben von der Künstlergruppe Moga Mobo, die der Zeichner vor 30 Jahren mit Kollegen gegründet hat.

Es ist eine faszinierende Annäherung an eine deutsche Lebensgeschichte, die Ackermann im Wechsel verschiedener Zeitebenen vermittelt. Nach und nach lässt sich aus den hier im Kontext einer Rahmenhandlung montierten Familiengesprächen zumindest erahnen, was den Sohn einer armen Försterfamilie, dessen Vater einst von Wilderern erschossen wurde, in den 1930ern zu den Nationalsozialisten zog. Und wie er nach dem Sieg der Alliierten zwar seinen Überzeugungen treu blieb, nach außen hin aber eine bürgerliche Fassade pflegte und im Wirtschaftswunderland Bundesrepublik zum erfolgreichen Geschäftsmann aufstieg, vermittelt exemplarisch ein zentrales Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Bislang sind zwei von vier geplanten Bänden erschienen, hier ein Titelbild.

© Moga Mobo

Zeichnerisch arbeitet Ackermann in einem halbrealistischen Stil mit klaren Konturlinien und flächigen Kolorierungen, die die unterschiedlichen Zeitebenen gut voneinander abgrenzen: Blau für die erzählte Gegenwart des Jahres 1989, Braun für Anekdoten aus dem Leben des Großvaters als erwachsener Mann, dazu kommen ein paar skizzenhafte Szenen aus der Jugend des Opas. So wird der Leser gut nachvollziehbar in eine komplexe Biografie eingeführt, auf deren Fortsetzung man nach der Lektüre der bislang erschienenen ersten zwei Bände ungeduldig wartet.

Die einzelnen Bände von „Was vom Leben übrig bleibt“ gibt es gratis in ausgewählten Comicläden, im Online-Shop von Moga Mobo können sie für zehn Euro pro Stück bestellt werden.


3 Blutch: „Lucky Luke – Die Ungezähmten“

Ein Herz für Hilfsbedürftige hatte Lucky Luke ja schon immer. Im aktuellen Album der populären Western-Satire erweist sich der schlaksige Cowboy auch als sensibler Sozialarbeiter. In „Die Ungezähmten“ (Egmont, 48 S., 8,99 Softcover / 16 € Hardcover) nimmt er sich zweier verwahrloster Kinder an. Deren Eltern sind in kriminelle Geschäfte verwickelt und haben noch eine Rechnung mit einer Gangstertruppe offen, was den Rahmen für ein turbulentes Abenteuer bietet.

Eine Szene aus Blutchs „Lucky Luke – Die Ungezähmten“.

© Egmont Ehapa

Das wird hier allerdings mit einem besonderen Zeichenstrich und einem Humor erzählt, der etwas schräger ist als man es von der Reihe kennt. Das Album ist nämlich kein regulärer Band der Reihe, sondern der inzwischen sechste Teil der Hommage-Serie, in der Zeichner einen eigenen Blick auf Lucky Luke und sein Universum vermitteln.

Das ist in diesem Fall der Franzose Christian Hincker, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Blutch. Er hat sich in Frankreich als vielseitiger Autor einen Namen gemacht, der sensible autobiografische Geschichten ebenso gut erzählen kann wie experimentelle Comics oder Fantasy-Abenteuer der Reihe „Donjon“. Hierzulande sind allerdings bislang nur weniger seiner Werke veröffentlicht worden.

In „Die Ungezähmten“ behandelt er mit scheinbar leichter Hand große Themen wie Verwahrlosung, Armut und soziale Konventionen und teilt herrliche Seitenhiebe gegen bürgerliche Scheinheiligkeit aus. Sein Zeichenstil ist einen Hauch realistischer und skizzenhafter, als man das von der Reihe gewohnt ist, die einst von dem Belgier Morris geprägt wurde und seit dessen Tod 2001 von dem Franzosen Achdé im klassischen Stil fortgesetzt wird.

Das Titelbild von „Lucky Luke – Die Ungezähmten“.

© Egmont Ehapa

Blutch gibt Lucky Luke und den ihn umgebenden Nebenfiguren etwas mehr anarchischen Witz und mehr Charakter. Er hält sich aber im Gegensatz zu anderen Hommage-Autoren wie dem Franzosen Matthieu Bonhomme oder den deutschen Zeichnern Ralf König und Mawil weitgehend an die eingeführten Konventionen des Lucky-Luke-Universums. Daher dürfte dieser Band Fans der klassischen Reihe ebenso ansprechen wie Menschen, die sich etwas mehr frischen Wind in der seit inzwischen 78 Jahren laufenden Reihe wünschen.


4 Aisha Franz: „Drei aus der Zukunft“

Ferngesteuerte Wolken, fliegende Kinder und Roboter, die menschliche Popel als Treibstoff nutzen. Die Welt im Jahr 2065 ist aufregend und ein bisschen verrückt. Zumindest wenn es so kommen sollte, wie die Berliner Zeichnerin Aisha Franz („Work-Life-Balance“) es in ihrem Kinder-Comic „Drei aus der Zukunft“ (Reprodukt, 80 S., 15 €, Lesealter 6+) vorführt. Drei Kinder sind hier die Hauptfiguren und erleben in einer retro-futuristischen Welt jede Menge Eskapaden.

Eine Seite Aisha Franz’ Kindercomic „Drei aus der Zukunft“.

© Reprodukt

Seit 2019 veröffentlicht die vielfach ausgezeichnete Comicautorin ihre Kurzgeschichten auf „Zeit Leo“, den Kinderseiten der „Zeit“, jetzt ist ein Sammelband beim Berliner Reprodukt-Verlag erschienen. Die von Franz entworfene Zukunft ist ein in poppigen Pastellfarben gestalteter Abenteuerspielplatz, auf dem es manchmal drunter und drüber geht. Am Schluss der durch eine Rahmenhandlung zusammengehaltenen Kurzgeschichten steht dann aber meist ein glückliches Ende.

Das Titelbild von „Drei aus der Zukunft“.

© reprodukt

Ihre Figuren zeichnet die Illustratorin mit rundlichen, sparsam eingesetzten Linien und expressiven Gesichtern, das flexible Panel-Layout trägt zum dynamischen Gesamtbild bei. Es gibt viele witzige Anspielungen auf die Gegenwart, dezente kulturkritische Kommentare und vor allem viele amüsante Szenen aus dem Schul- und Familienalltag, in denen das junge Zielpublikum sich wiedererkennen dürfte. An diesem Sonntag liest Franz aus ihrem Buch beim Kinder-Comic-Tag in Berlin (14 Uhr, Kastanienallee 79, Prenzlauer Berg).


5 Schwarwel: „Gevatter“

Ein Mann mittleren Alters steht an einem Bahngleis und wirkt verzweifelt. „Ich halt’s nicht mehr aus“, seufzt er. Dann tritt er an die Bahnsteigkante – doch statt sich etwas anzutun, greift er zum Telefon und ruft einen Freund an, der ihm Hilfe vermittelt.

Eine Doppelseite aus Schwarwels „Gevatter“.

© Glücklicher Montag

Fünf Jahre lang hat sich der Leipziger Comiczeichner Thomas Meitsch alias Schwarwel in seiner Heftreihe „Gevatter“ mit existenziellen Fragen beschäftigt, jetzt wurde die autobiografisch geprägte Erzählung als Sammelband veröffentlicht (Glücklicher Montag, 172 S., 19,90 €). Der Tod ist ein ständiger Begleiter der Hauptfigur Timmy. Über seine Eltern, die beide Ärzte sind, bekommt er früh Einblicke in die Vergänglichkeit des menschlichen Körpers. Einige Gewalttaten und Todesfälle in seinem Umfeld nehmen ihn sehr mit, schon früh entwickelt er einen morbiden Blick auf die Welt.

Das Titelbild des Sammelbandes von „Gevatter“.

© Glücklicher Montag

In kontraststarken Schwarz-Weiß-Bildern führt Schwarwel vor Augen, wie aus dem von Ängsten geplagten Timmy ein Mann wird, der sich als rebellischer Punk eine harte Schale zulegt, aber innerlich unter Depressionen und Panikattacken leidet.

Mit seinem Zeichenstrich in der Tradition von Charles Burns, an klassische Holzschnitte erinnernden Schraffuren und einem strengen Panel-Raster gibt der Zeichner seiner Erzählung einen kontrolliert wirkenden Rahmen. Die Geschichte, die er damit erzählt, ist jedoch von einer gegenteiligen Dynamik geprägt: Es geht um Verzweiflung, innere Zerrissenheit und Suizidgedanken. Im Wechsel unterschiedlicher Zeitebenen gibt Schwarwel zudem tiefe Einblicke in eine DDR-Jugend zwischen Anpassung und Rebellion.

Gefördert wurde die Veröffentlichung von der Funus-Stiftung, deren Ziel eine offene Auseinandersetzung mit dem Tod ist. Schwarwel vermittelt das Thema so, dass es noch lange nachwirkt. Und er zeigt, dass es auch in scheinbar ausweglosen Situationen oft einen Pfad zurück ins Leben gibt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })