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Eine Szene aus „Die letzte Einstellung“.

© Reprodukt Verlag

Comic „Die letzte Einstellung“ : Erich Kästner und ein unvollendeter NS-Durchhaltefilm

Das NS-Regime will einen letzten „Durchhaltefilm“, daran beteiligt ist ein Autor mit Berufsverbot. Isabel Kreitz’ neue Graphic Novel „Die letzte Einstellung“ erzählt eine fiktive Geschichte, hat aber eine reale Vorlage.

Von Christian Meyer-Pröpstl

Stand:

Über acht Jahre lang hat Isabel Kreitz an ihrer neuen Graphic Novel „Die letzte Einstellung“ gearbeitet, in der die Hamburger Comiczeichnerin in die dunkle Zeit der Naziherrschaft und die Jahre kurz danach eintaucht.

Auch wenn der Protagonist ihres neuen Comics Heinz Hoffmann heißt, ist schnell klar, dass wesentliche biografischen Daten und Eigenschaften von Erich Kästner entliehen sind. Wie Kästner entscheidet sich Hoffmann, ein Autor von Kinderbüchern, Romanen, Drehbüchern und Kritiken, in den 1930er-Jahren im Gegensatz zu den meisten seiner jüdischen und nicht-jüdischen Freunde gegen das Exil. Und das, obwohl seine Bücher im Jahr 1933 verbrannt wurden und er fortan Berufsverbot hatte.

Ein Filmprojekt als Rettungsanker

Hoffmann geht für zehn Jahre in die innere Emigration, bis seine Wohnung ausgebombt wird. Erika Harms, für die Kästners langjährige Lebensgefährtin, die Journalistin und Dramaturgin Luiselotte Enderle, als Vorlage diente, bietet ihm Unterschlupf. Sie ermöglicht es ihm auch, wieder zu arbeiten.

Da sie selbst beim Filmstudio Ufa tätig ist, weiß sie, dass es bei dem von William Wylers „Mrs. Miniver“ (1942) inspirierten Filmprojekt „Das Leben geht weiter“ unter der Regie von Wolfgang Liebeneiner große Schwierigkeiten mit dem Drehbuch gibt. Trotz seines Berufsverbots soll nun wieder Hoffmann ran.

Eine Szene aus „Die letzte Einstellung“.

© Reprodukt Verlag

Die Sondergenehmigung kommt von höchster Ebene, denn das Projekt hat für Goebbels Priorität. Kosten und Aufwand spielen keine Rolle. Der Film gilt als kriegsentscheidend, weil er die Durchhaltekraft des deutschen Volkes zeigen soll.

Auch Regisseur Liebeneiner hat das Projekt längst zu einer Herzensangelegenheit gemacht, will ihn aber mit einem Unterton gegen jeglichen Krieg inszenieren. Hoffmann versucht, zwischen eigener Not und moralischen Konflikten heil aus all dem wieder herauszukommen.

Kreitz hat Kästner mehrfach als Comic adaptiert

Isabel Kreitz ist eine große Erich-Kästner-Kennerin. Sie hat nicht nur seine Kinderbücher verschlungen, sondern einige davon auch als Comic adaptiert – „Emil und die Detektive“, „Pünktchen und Anton“, „Das doppelte Lottchen“ sowie „Der 35. Mai“.

Diese Adaptionen sind farbig gehalten, während „Die letzte Einstellung“ schwarz-weiß ist. Ihre Kohlezeichnungen setzen sich damit deutlich von ihren freundlich-farbigen Adaptionen ab und sind einer nüchternen Sachlichkeit verpflichtet.

Eine weitere Szene aus „Die letzte Einstellung“.

© Reprodukt Verlag

Das trifft für die Figurenzeichnung wie für die historischen Settings – Stadtansichten und Straßenszenen, Büros und Wohnräume sowie Luftschutzbunker – zu. Es trifft aber auch für die Szenen der Filmproduktion mit den Dreharbeiten zu.

Für die Details der Story wie auch der visuellen Darstellung der Filmsettings hat Kreitz auf die Arbeit des Regisseurs und Filmhistorikers Hans-Christoph Blumenberg zurückgegriffen. Der hatte 1993 in seinem Buch „Das Leben geht weiter – Der letzte Film des Dritten Reichs“, das 2002 auch als Doku-Drama verfilmt wurde, die Geschichte des Filmprojekts rekonstruiert.

Kunstvolle Melange von Geschichten

„Das Leben geht weiter“ sollte der letzte große Durchhaltefilm werden. Weil Berlin schon zerstört war, wurden ganze Straßenzüge in Babelsberg nachgebaut. Für eine Szene errichtete man sogar einen Bahnhof und schaffte 1000 Statisten zwangsweise aus den Lagern herbei.

Als auch auf Babelsberg Bomben fallen, muss man weiterziehen. Noch bis zum 16. April 1945 wurde unter widrigen Umständen inklusive Luftangriffen in einem Fliegerhorst bei Lüneburg gedreht. Aus Berlin kommen da schon lange keine Anweisungen oder Rückmeldungen mehr.

Als die Engländer am Drehort eintreffen, ist das Filmmaterial verschollen. Bis heute gibt es nur wenige Minuten ohne Ton und einige Minuten Tonmaterial ohne Film.

Kreitz erzählt von diesen Ereignissen mit viel Gespür für die Figuren und das Setting. Warum aber wählte sie eine Kunstfigur und nicht Erich Kästner als Protagonisten?

Eine weitere Szene aus „Die letzte Einstellung“.

© Reprodukt Verlag

Kreitz baut Kästner in die Dreharbeiten von „Das Leben geht weiter“ ein, obwohl er in Wahrheit gar nicht dabei war; trotz Berufsverbot schrieb er in dieser Zeit unter Pseudonym Drehbücher. Allerdings hielt er sich als Drehbuchautor bei Dreharbeiten in den Alpen auf – zum Film „Das verlorene Gesicht“.

Auch diesen Film gibt es nicht, und im Gegensatz zu „Das Leben geht weiter“ sollte es ihn auch nie geben. Denn hier war nicht nur die Bergwelt Kulisse, sondern das ganze Filmprojekt. „Das verlorene Gesicht“ war ein raffiniert eingefädelter Vorwand, um 60 Filmarbeiter am Ende des Krieges vor den Nazis zu retten. Es wurde nie gedreht, in den Kameras befand sich kein Filmmaterial.

Aber das ist eine andere Geschichte. Kreitz hat für das Ende von „Die letzte Einstellung“ beide Geschichten miteinander verwoben und damit eine spannende Geschichte über Moral und Gewissen während der letzten Kriegstage geschaffen. (KNA)

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