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Eine Seite aus Isabel Kreitz’ „Die letzte Einstellung“

© reprodukt

Die besten Comics des Quartals: Historische Dramen führen Kritiker-Auswahl an

Alle drei Monate wählen 30 deutschsprachige Comic-Kritiker die aus ihrer Sicht besten Neuerscheinungen der Saison. Hier die Liste der zehn aktuellen Favoriten.

Stand:

Wie hätte man sich wohl selbst verhalten? Das ist eine der Fragen, die die Lektüre von Isabel Kreitz‘ aktueller Graphic Novel „Die letzte Einstellung“ provoziert. Im Mittelpunkt steht die fiktive, Erich Kästner nachempfundene Figur des Schriftstellers Heinz Hoffmann, der sich nach der Machtübernahme Hitlers 1933 entscheidet, trotz seiner Ablehnung der Nationalsozialisten und eines Berufsverbots als Autor in Deutschland zu bleiben. 

Die Folgen dieser Entscheidung vermittelt Kreitz in handwerklich meisterhaften, naturalistisch gehaltenen Schwarz-Weiß-Zeichnungen. Jetzt ist ihr Buch von einer Jury aus 30 deutschsprachigen Comic-Kritikerinnen und -Kritikern zur besten Veröffentlichung des vergangenen Quartals gewählt worden.

Der Tagesspiegel präsentiert die Comic-Bestenliste in Kooperation mit dem RBB-Sender Radio 3, der Fachzeitschrift „BuchMarkt“ und der Website Comic.de.


1 Isabel Kreitz: „Die letzte Einstellung“

Das Titelbild des Jury-Favoriten

© Reprodukt Verlag

Isabel Kreitz hat sich in den vergangenen Jahren mit akribisch recherchierten historischen Comic-Erzählungen wie „Die Sache mit Sorge“, „Haarmann“ (mit Peer Meter) und „Die Entdeckung der Currywurst“ (nach dem Roman von Uwe Timm) als eine der wichtigsten deutschen Zeichnerinnen etabliert. Sie hat zudem mehrere Kinderbücher von Erich Kästner als Comics adaptiert und wurde unter anderem mit dem Max-und-Moritz-Preis, dem Wilhelm-Busch-Preis und dem e.o.plauen-Preis ausgezeichnet.

Eine Seite aus Isabel Kreitz’ „Die letzte Einstellung“

© reprodukt

„Die letzte Einstellung“ (Reprodukt, 312 S., 29 €) lässt mit lebensnahen Dialogen und authentischen, teilweise auf realen historischen Persönlichkeiten basierenden Figuren erst das Deutschland des Jahres 1933 und dann des Jahres 1944 lebendig werden. Mit dunklen Bleistift- und Kohlezeichnungen auf sepiafarbenem Papier vermittelt Kreitz die Grausamkeit des Alltags unter dem NS-Regime und die Schrecken des Bombenkrieges.

Am Beispiel Heinz Hoffmanns erzählt Kreitz von Widersprüchen und Konflikten, die mit dem Alltag im NS-Staat einhergingen, wenn man sich als Hitler-Kritiker verstand, aber unter dessen Regime überleben wollte. Dank seiner Beziehung zu einer patenten Mitarbeiterin des Filmunternehmens Ufa kann Hoffmann unter Pseudonym als Drehbuchautor für NS-Durchhaltefilme seinen Lebensunterhalt verdienen, so wie einst auch Kästner.

Eine weitere Szene aus Isabel Kreitz’ Buch

© reprodukt

Die Schilderung der Arbeiten an diesem realen historischen Projekt gibt Kreitz viel Gelegenheit, einige absurde Parallelitäten jener Zeit anschaulich zu machen: Während sich das Ufa-Team erst in Berlin und dann in der niedersächsischen Provinz auf die Fertigstellung seines Films konzentriert, sieht man daneben das Leid ausgebeuteter Zwangsarbeiter und andere Repressionen des NS-Terrorregimes sowie die grausamen Folgen des Bombenkrieges.

Kreitz‘ Figurenzeichnung besticht neben den makellosen Zeichnungen durch erzählerische Differenziertheit. Wie in ihren früheren Werken beweist sie auch in „Die letzte Einstellung“ eine große Sensibilität für Zwischentöne, Widersprüche und menschliche Schwächen, ohne ihre Charaktere bloßzustellen oder ein Urteil zu fällen. Das überlasst sie ihrem Publikum – wie eben auch die Antwort auf die Frage, wie man sich wohl selbst in vergleichbaren Situationen verhalten würde.


2 Birgit Weyhe: „Schweigen“

Auf Platz zwei der Kritiker-Bestenliste wurde ein weiteres Werk zu einem historischen Thema von einer in Hamburg lebenden Zeichnerin gewählt: Birgit Weyhes dokumentarischer Comic „Schweigen“ (Avant, 368 S., 39 €). Darin arbeitet sie die Verbrechen der Militärdiktatur in Argentinien auf und untersucht deutsche Verstrickungen mit dem Regime.

Eine Seite aus Birgit Weyhes „Schweigen“

© Avant-Verlag

Weyhe, die lange auch für den Tagesspiegel gearbeitet hat, zeichnet in „Schweigen“ die Schicksale zweier in Argentinien lebender Frauen mit deutschen Wurzeln nach. Sie wurden auf unterschiedliche Weise zu Opfern der Diktatur, deren Verbrechen auch 40 Jahre später nur teilweise aufgearbeitet und juristisch geahndet sind.

Zeichnerisch nutzt die in Deutschland geborene und in Ostafrika aufgewachsene Weyhe ein von ihr in den vergangenen 15 Jahren etabliertes visuelles Vokabular, wie man es bereits aus ihren vielfach prämierten Büchern „Madgermanes“, „Rude Girl“ oder „Lebenslinien“ kennt, in denen außergewöhnliche, in der Regel mehrere Kulturen verbindende Biografien vermittelt werden. Eine ausführliche Rezension von „Schweigen“ gibt es hier.


3 Rodrigo Terrasa und Paco Roca: „Der Abgrund des Vergessens“

Auf Platz drei findet sich ein dokumentarischer Comic, der sich ebenfalls mit einer Diktatur, ihren Opfern und der mangelnden Aufarbeitung der Vergangenheit befasst: „Der Abgrund des Vergessens“ (aus dem Spanischen von André Höchemer, Reprodukt, 304 S., 34 €) aus Spanien.

In dieser Graphic Novel erzählen der Journalist Rodrigo Terrasa und der Zeichner Paco Roca von jenen, die als „Verschwundene“ bezeichnet werden: Regimegegner und andere Menschen, die infolge des Spanischen Bürgerkriegs und unter dem Franco-Regime ermordet wurden, ohne dass ihre Angehörigen je erfuhren, was mit ihnen passiert war. Dabei behandeln sie in sachlichen, klaren Bilderfolgen neben den Verbrechen der Vergangenheit auch das Schweigen und Vertuschen, das bis heute eine Aufarbeitung jener Zeit erschwert.


4 Charles Berberian: „Eine orientalische Erziehung“ 

Auf den vierten Platz wählte die Jury ein biografisches Werk: Charles Berberians Graphic Novel „Eine orientalische Erziehung“ (aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock, Reprodukt, 144 S., 25 €). Darin erzählt der im Irak geborene, im Libanon aufgewachsene und seit den siebziger Jahren in Frankreich lebende Zeichner mit abwechslungsreichen grafischen Stilen davon, wie er nach 30 Jahren erstmals nach Beirut zurückkehrte und seinen Wurzeln und der Geschichte des Landes nachspürte.


5 Olivier Schrauwen: „Sonntag“

Der Berliner Zeichner Olivier Schrauwen kam mit seinem Buch „Sonntag“ (aus dem Englischen von Christoph Schuler, Edition Moderne, 472 S., 45 €) zum zweiten Mal auf Platz fünf der Auswahl. Auf denselben Platz hatte die Jury seine Graphic Novel bereits in der Kür des ersten Quartals 2025 gewählt.

Eine Doppelseite aus Olivier Schrauwens „Sonntag“

© Edition Moderne

Auf fast 500 Seiten zeichnet der aus Belgien stammende Künstler darin minutiös einen Tag im Leben seines Protagonisten nach. Meisterhaft spielt Schrauwen in seiner zuerst als Heftreihe bei Colorama veröffentlichten Erzählung mit den formalen Möglichkeiten der Kunstform Comic und erweist sich ein weiteres Mal als reflektierter Erzähler. Hier gibt es eine ausführliche Rezension des Buches.


6 Ulli Lust: „Die Frau als Mensch – Am Anfang der Geschichte“

Der Jury-Favorit des ersten Quartals ist diesmal erneut in der Liste vertreten, und zwar auf Platz sechs: Ulli Lusts Sachcomic „Die Frau als Mensch – Am Anfang der Geschichte(Reprodukt, 256 S., 29 €). Darin rekapituliert die international erfolgreiche Berliner Zeichnerin („Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“) neue Erkenntnisse zur menschlichen Frühgeschichte, in denen Frauen eine wichtigere Rolle als in der klassischen Ethnologie und Archäologie zukommt.

Eine Szene aus Ulli Lusts „Die Frau als Mensch – Am Anfang der Geschichte“

© reprodukt

Sie verbindet das mit persönlichen Anekdoten und humorvollen Beobachtungen zum Verhältnis der Geschlechter in der Gegenwart. Dieser Titel, dessen zweiter Band im kommenden Jahr erscheinen soll, war kürzlich auch als der erste Comic überhaupt mit dem Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichnet worden.


7 Dan Jurgens und Mike Perkins: „Bat-Man: First Knight“

Auf Platz sieben kam ein Superheldencomic: „Bat-Man: First Knight“ (Übersetzung Ralph Kruhm, Panini Comics, 56 S., 16 €). Darin interpretieren der US-Autor und Zeichner Dan Jurgens („The Death of Superman“) und sein britischer Kollege Mike Perkins die Anfänge der populären, damals noch mit Bindestrich geschriebenen Figur neu. Als Bezugspunkt ihrer im Gewand eines Noir-Krimis erzählten Geschichte dient ihnen die Ursprungsgeschichte Batmans im Jahr 1939.


8 Akira Toriyama: „Sand Land“

Der einzige Manga, der es in diesem Quartal in die Kritiker-Auswahl schaffte, ist die Neuauflage eines Werks aus dem Jahr 2000: „Sand Land“ von Akira Toriyama (Übersetzung Dorothea Überall, Carlsen, 244 S., 12 €) landete auf Platz acht.

Der 2024 gestorbene Autor war hierzulande vor allem für seinen Dauer-Bestseller „Dragon Ball“ bekannt. „Sand Land“, das jetzt als „Perfect Edition“ neu herausgegeben wurde, ist in einer dystopischen, von übernatürlichen Wesen bewohnten Zukunftswelt angesiedelt. Die Hauptfigur der auch als Anime und Videospiel erfolgreichen Erzählung ist der Sohn des Teufels, der nicht nur optisch eine gewisse Ähnlichkeit mit Son-Goku besitzt, der Hauptfigur von „Dragon Ball“.


9 Hannes Hegen, Ulf S. Graupner und Steffen Jähde: „Das Duell an der Newa“

Eine Szene aus dem Comic „Das Duell an der Newa“

© Mosaik Steinchen für Steinchen Verlag

Eine 62 Jahre alte Episode mit den drei „Mosaik“-Kobolden Dig, Dag und Digedag schaffte es diesmal auf Platz neun der Kritiker-Auswahl: In einem „Mosaik“-Sonderheft mit dem Titel „Das Duell an der Newa“ (Mosaik Steinchen für Steinchen Verlag, 24 S., 15 €) wurde kürzlich ein im Nachlass des DDR-Comic-Pioniers Hannes Hegen entdecktes Manuskript aus dem Jahr 1963 mit neuen Zeichnungen von Ulf S. Graupner und Steffen Jähde vollendet. Mehr zu dem Projekt erfahren Sie hier.


10 Luz: „Zwei weibliche Halbakte“

Auf Platz zehn kam ein Titel, der bereits im vorigen Quartal zu den Lieblingen der Jury gehörte: „Zwei weibliche Halbakte“ (aus dem Französischen von Lilian Pithan, Reprodukt, 192 S., 29 €) des Franzosen Luz. In dieser Graphic Novel erzählt der ehemalige „Charlie Hebdo“-Zeichner anhand eines Gemäldes vom Aufstieg der Nationalsozialisten in Deutschland.

Das Besondere dabei: Die gesamte Handlung wird aus Sicht von Otto Muellers Bild „Zwei weibliche Halbakte“ erzählt, das so zur Hauptfigur der Geschichte wird. Mehr zu dem Buch und seinem Autor finden Sie hier.

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