
© Edition 52
Gezeichnete Literaturadaption: Die Leiden des jungen Lenz
Andreas Eikenroths Comic-Adaption von Georg Büchners „Lenz“ ist nur zum Teil gelungen. Die Ursachen liegen einerseits bei Büchner, andererseits beim Zeichner.
Stand:
Im Mai 2022 jährt sich der Todestag des Schriftstellers Jakob Michael Reinhold Lenz zum 230. Mal. 1751 geboren, war Lenz nicht nur ein Zeitgenosse des zwölf Jahre älteren Goethe, sondern auch persönlich mit ihm bekannt – und nicht nur mit ihm, auch mit anderen einschlägigen Köpfen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, er verkehrte unter anderem mit Johann Gottfried Herder, Johann Heinrich Jung-Stilling und Johann Caspar Lavater.
1776 folgt Lenz Goethe nach Weimar, wo er später wegen „Lenzens Eseley“, wie es in Goethes Tagebuch heißt, wohl auf dessen Betreiben aus Sachsen-Weimar ausgewiesen wird. Es ist bis heute ungeklärt, worin genau diese Dummheit bestand. Etwa in dieser Zeit zeigen sich erste Anzeichen einer psychischen Krankheit, die heute als bipolare affektive Störung eingeschätzt wird; die „Eseley“ mag eines davon gewesen sein.
Nach Aufenthalten unter anderem in Basel und Zürich verbringt Lenz mehrere Wochen im Frühjahr 1778 bei Johann Friedrich Oberlin im elsässischen Waldersbach, südlich von Straßburg in den Vogesen. Der Fortschritt seiner Erkrankung äußert sich hier in Episoden geistiger Verwirrung und mehreren Selbstmordversuchen. Oberlin berichtet darüber in seinen Aufzeichnungen.
13 Jahre später, am 4. Juni 1792, wird Lenz, Verfasser der bis heute gespielten Stücke „Der Hofmeister“ und „Die Soldaten“, in Moskau tot in einer Straße aufgefunden.
Rund zwanzig Jahre nach Lenzens Tod, 1813, wird Georg Büchner geboren, der 1834 den „Hessischen Landboten“ verfasst und unter dem Credo „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“ den Aufstand der Landbevölkerung gegen den Adel fordert. 1835 muss Büchner aufgrund seiner revolutionären Bestrebungen Hessen verlassen. Er flieht nach Straßburg, wo er die Novelle „Lenz“ schreibt, die Oberlins Bericht nacherzählt und dabei den eigenen ästhetischen und politischen Interessen anpasst.
Auch Büchner stirbt 1837 jung (an Typhus), mit nur 23 Jahren jünger noch als Lenz. Es mag sein, dass sich Büchner in Lenz, dessen „Hofmeister“ und „Soldaten“ durchaus politische Stücke waren, wiedererkannt hat.
2021, mit einem großen historischen und politischen Abstand, bringt der Gießener Zeichner Andreas Eikenroth („Die Schönheit des Scheiterns“, „Hummel mit Wodka“) eine Comicadaption von Büchners „Lenz“ heraus: „Lenz. Eine grafische Novelle von Andreas Eikenroth nach Georg Büchner“ (Edition 52, 80 S. 18 €). Er hat dabei zwei Handicaps. Das erste liegt bei Büchner, das zweite bei ihm selbst.
Büchners „Lenz“: Sprachgewalt und Bildlichkeit
Beginnen wir mit Büchner: „Lenz“ ist ein kurzer aber wortgewaltiger Text (hier in einer nicht textkritische Ausgabe zum Nachlesen). Ein Beispiel vom Anfang:
„Nur manchmal, wenn der Sturm das Gewölk in die Täler warf und es den Wald herauf dampfte, und die Stimmen an den Felsen wach wurden, bald wie fern verhallende Donner und dann gewaltig heranbrausten, in Tönen, als wollten sie in ihrem wilden Jubel die Erde besingen, und die Wolken wie wilde, wiehernde Rosse heransprengten, und der Sonnenschein dazwischen durchging und kam und sein blitzendes Schwert an den Schneeflächen zog, so daß ein helles, blendendes Licht über die Gipfel in die Täler schnitt; oder wenn der Sturm das Gewölk abwärts trieb und einen lichtblauen See hineinriß und dann der Wind verhallte und tief unten aus den Schluchten, aus den Wipfeln der Tannen wie ein Wiegenlied und Glockengeläute heraufsummte, und am tiefen Blau ein leises Rot hinaufklomm und kleine Wölkchen auf silbernen Flügeln durchzogen, und alle Berggipfel, scharf und fest, weit über das Land hin glänzten und blitzten – riß es ihm in der Brust, er stand, keuchend, den Leib vorwärts gebogen, Augen und Mund weit offen, er meinte, er müsse den Sturm in sich ziehen, alles in sich fassen, er dehnte sich aus und lag über der Erde, er wühlte sich in das All hinein, es war eine Lust, die ihm wehe tat; oder er stand still und legte das Haupt ins Moos und schloß die Augen halb, und dann zog es weit von ihm, die Erde wich unter ihm, sie wurde klein wie ein wandelnder Stern und tauchte sich in einen brausenden Strom, der seine klare Flut unter ihm zog.“

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Ein Satz ist das, aber was für ein Satz! Auch wer sonst nur Tweets liest, kann von Büchners galoppierenden 1440 Zeichen mitgerissen werden, die so atemlos sind wie seine Hauptfigur. Dazu kommen viele einprägsame Sätze und eine Metaphorik, die stark ist, ohne kitschig zu sein. Das Metaphernfeld Licht und Schatten spielt dabei eine herausragende Rolle.
Büchners „Lenz“ ist darüber hinaus ein visueller Text. Immer wieder beschreibt er Szenen ekphrastisch, das heißt in einer Weise, die sie wie ein Bild erscheinen lässt, etwa wenn er Lenz an Fenster herantreten und in die Hütten der Menschen blicken lässt: „Er ging durch das Dorf. Die Lichter schienen durch die Fenster, er sah hinein im Vorbeigehen: Kinder am Tische, alte Weiber, Mädchen, alles ruhige, stille Gesichter. Es war ihm, als müsse das Licht von ihnen ausstrahlen; es ward ihm leicht“.
Büchner verwendet hier sprachliches Chiaroscuro, die stimmungsvolle Inszenierung mittels tiefer Schatten und wenigen hellen Bildpartien, die umso stärker hervortreten. Mittelpunkt der Novelle ist denn auch eine Auseinandersetzung über die Vorzüge der realistischen niederländischen Malerei gegenüber der idealistischen italienischen. Die politisch motivierte Ästhetik des Autors Büchner artikuliert sich darin ahistorisch durch seine Figur Lenz.
[Unser Autor ist Literaturwissenschaftler und Gründer des Ch. A. Bachmann Verlages, dessen Schwerpunkt auf der Comicforschung liegt. Zuletzt ist von ihm im Wehrhahn-Verlag das Buch „Little Orphan Annies Transformationen - Medienformatwechsel und mediale Eigenzeit zwischen Zeitung, Buch und Heft“ veröffentlicht worden.]
Dass das Wort hier so gewaltig ist, erschwert eine grafische Adaption, weil das Bild dem Wort wenig hinzuzufügen hat, doch die Visualität von Büchners Sprache sollte diese auch zugleich erleichtern. Eikenroth weist in seinem Geleitwort – allerdings unter Rückgriff auf Büchners Biographen Hermann Kurzke, statt auf den Text selbst – auf die bildmalerische Qualität hin. Doch hier kommt Eikenroths eigenes Handicap in die Quere.
Eikenroths expressionistischer Stil
Wie in seiner „Woyzeck“-Adaption von 2019 setzt Eikenroth nicht auf Panels, sondern auf ganzseitige Bilder, die durch diagonale Einschnitte geteilt, durch die Dialoge in Sprechblasen rhythmisiert werden. Das funktioniert für viele Passagen wie den oben zitierten Satz gut, wenn es ihm erlaubt, das atemlose Stakkato zusammenzuziehen. Der zeichnerische Stil dieser Bilder ist jedoch ein Hindernis.

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Da das Fragment „Woyzeck“ (1836) erstmals posthum 1913 aufgeführt wurde (dazu kommt 1925 eine Oper von Alban Berg sowie 1947 eine Verfilmung von Georg C. Klaren), verbinden wir es mit einer modernen Ästhetik, sehen den Woyzeck zuerst als Soldaten des deutschen Reichs am Vorabend des ersten Weltkriegs, obschon Büchners Figur den napoleonischen Kriegen mit ihrer Linieninfanterie zeitlich viel näher steht als der hochtechnisierten Massenvernichtung des ersten Weltkriegs.
Eikenroth folgt dieser Vorstellung und setzt seinen „Woyzeck“ in einem expressionistischen Stil um, der zum Beispiel an George Grosz erinnert. „Lenz“ setzt er im gleichen Stil um, doch hier wird er zu einem störenden Anachronismus, der nicht wie beim „Woyzeck“ aus der zeitversetzten Rezeption des Stückes resultiert.
Karola Schepp hebt in ihrer Rezension in der „Gießener Allgemeinen“ hervor, Eikenroths „Lenz“ sei „in der Zeit des 19. Jahrhunderts verankert“ und zitiert den Künstler mit den Worten: „Es wäre der Geschichte nicht dienlich gewesen, sie in eine andere Zeit zu verlegen“.
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Und in der Tat: Wie Eikenroth seine Figuren und Räume ausstaffiert, lässt keinen Zweifel an der Verortung im 19. Jahrhundert aufkommen, obwohl die Handlung bei Büchner tatsächlich in das späte 18. Jahrhundert fällt. Zudem ist Eikenroths Vorstellung vom 19. Jahrhundert nicht die des Jungen Deutschland, die Büchner erfahren hat, sondern später angesiedelt: gehörnte Wikinger (zuerst 1870 bei Wagner) stehen hier neben Weihnachtsbäumen mit Glaskugeln (seit ca. 1860) und einem Schiff, das wohl an Melvilles Walfänger „Pequod“ erinnern soll (1851).

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Es mag kleinlich erscheinen. sich an Details aufzuhängen, etwa dass diese „Pequod“ statt als Vollschiff als Toppsegelschoner getakelt ist, oder dass Lenz in den Vogesen ein Mann in bayerischer Tracht begegnet (obwohl Trachten als Teil der realistischen Ästhetik bei Büchner eine Rolle spielen), oder dass in den Bauernhütten immer wieder Deckenlampen die Figuren beleuchten, oder dass in Oberlins protestantischer Gemeinde ein Devotionalienbild des Unbefleckten Herzens Mariä zu sehen ist. Allerdings spielen diese Details hinein in den Eindruck einer gestalterischen Beliebigkeit. Der expressionistische Stil, der den „Woyzeck“ stützt, unterstreicht dies hier noch.
Postmoderne Beliebigkeit?
Eikenroth stellt sich dem Problem der Darstellung von Lenzens Wahnvorstellungen klug, indem er sich auf bekannte Werke der bildenden Künste stützt: Aus Hieronymus Boschs apokalyptischer Bildwelt entlehnt er dämonische Figuren, die er Lenz einflüstern lässt. Lenzens Einlassungen zur Kunst illustriert er mittels einer Montage von Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“ und Vincent van Goghs „Sternennacht“, in der Lenz als Wanderer figuriert.

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An anderer Stelle zieht er Johann Heinrich Füsslis Nachtmahr hinzu. Etwas ratlos machen dann jedoch Einstreuungen wie das Cover des Pink Floyd-Albums „The Dark Side of The Moon“ (1973) oder die Idee, Lenz Edvard Munchs Bild „Der Schrei“ (um 1900) malen zu lassen.
Beide scheinen hier nur als bekannte Pop-Ikonen ihre Aufwartung zu machen und wirken deshalb deplatziert. Ebenso ein kurzer Auftritt Friedrich Nietzsches. Es gibt zwar inhaltliche Bezüge zum Text (Abgrund, Farbenlehre, psychische Erkrankung des Künstlers), doch vergrößern sie das Gefühl eines visuellen Potpourris, das dem an sich selbst, am Glauben, an der ganzen Welt zerbrechenden jungen Mann in einer extremen Lebenskrise kaum gerecht wird und ebenso wenig der Sprachgewalt Büchners.
An dieser Stelle kann man einwerfen, Eikenroths Adaption sei halt postmodern: anything goes! Doch das würde die ästhetische Stringenz postmoderner Werke übergehen. Die Verfügbarkeit des Vorgefundenen ist in gelungenen postmodernen Werken Grundlage für ganz und gar nicht beliebige ästhetische Strategien, die Zwecke haben, etwa die Sprach- oder Medienkritik, oder dichte, durchkomponierte Texte weben.
Licht und Schatten
Eikenroths Stil stellt noch ein weiteres Hindernis dar: Die flächige, helle Kolorierung konterkariert die von Büchner ekphrastisch gemalten Stimmungen. Licht und Schatten spielen darin, wie gesagt, eine wichtige Rolle, doch finden sie in Eikenroths Bildern nur selten Ausdruck.
Da der expressive Stil auf harte Linien und glatte Flächen setzt, gibt es hier keine „gewaltige[n] Lichtmassen, die manchmal aus den Tälern wie ein goldener Strom schwollen“. Chiaroscuro, wie von Büchner beschrieben, sucht man hier vergeblich zwischen den Schlaglichtern und -schatten.

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Stattdessen klebt Eikenroth zuweilen zu sehr an Büchners Metaphern – zieht das Sonnenlicht zwischen den Berggipfeln an den Schneeflächen hindurch wie ein „blitzendes Schwert“, „so dass ein helles, blendendes Licht über die Gipfel in die Täler schnitt“, dann zeigt Eikenroth ein Schwert vor einer Sonne und Gipfeln.
Eikenroth gibt Büchners Text vollständig wieder (Kürzungen sind dem Verfasser dieses Textes zumindest keine aufgefallen), seine Adaption bietet also in jedem Fall die Gelegenheit, diesen wundervollen Text einmal wieder oder zum ersten Mal zu lesen. Die Bilder können dabei helfen, die Handlung sowie Lenzens Leiden zu veranschaulichen, soweit das bei psychischen Krankheiten überhaupt möglich ist.
Selbst wo sie auf der Ebene des Dargestellten von einer gewissen Beliebigkeit sind und der Stil nicht recht zum Text passen mag, regen sie zum Nachdenken an und das ist auch ein Erfolg. Schließlich gibt es keine „richtige“ Art, eine Adaption zu machen, alle Zugänge haben unterschiedliches zu sagen, können verschiedene Aspekte eines Textes erhellen oder verdunkeln.
Wer eine grafische Fassung des „Lenz“ sucht und bereit ist, den Text gesondert zu lesen, kann alternativ zu Barbara Treskatis’ atmosphärischer Adaption von 2018 greifen: „Lenz. Ach könnte ich so glücklich sein wie Sie. Eine Graphic Novel nach Geord Büchner“ (Verlag der Ideen, 58 S., 16,90 €).
Christian A. Bachmann
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