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Schwarzweißer Alltag: Eine Szene aus „Persepolis“.

© Edition Moderne

Marjane Satrapi über 20 Jahre „Persepolis“: „Mir fehlt die intellektuelle Herausforderung“

Vor 20 Jahren veröffentlichte Marjane Satrapi „Persepolis“, es wurde ein Welterfolg. Dann kehrte sie der Kunstform Comic den Rücken - hier sagt sie, wieso.

Es gibt nur wenige Comics, die solche Verkaufszahlen erreichen. Mehr als vier Millionen Exemplare sind seit seinem Erscheinen von Marjane Satrapis Buch „Persepolis“ vor 20 Jahren weltweit verkauft worden, davon auch etliche im deutschsprachigen Raum

Bis heute ist die autobiografische Kindheits- und Jugendgeschichte der in Paris lebenden Künstlerin der meistverkaufte Comic im Portfolio des renommierten Schweizer Comicverlags Edition Moderne, der nach der Übergabe der Herausgeberschaft im vergangenen Jahr 2021 sein 40-jähriges Bestehen feiert.

40-jähriges Verlagsfest und 20-jähriges Jubiläum des Bestsellers, der als prächtige einbändige „Jubiläumsausgabe“ eine weitere Auflage erfährt (aus dem Französischen von Stephan Pörtner, 356 Seiten, 25 €) – Anlass genug, Marjane Satrapi zu einer Handvoll digitaler Mediengespräche zu motivieren.

Dass es dabei nicht nur um Comics geht, wird schon beim Blick in ihr Atelier über den Monitor sichtbar. Im Hintergrund hängt die Kinobeleuchtung für ihre Filmadaption von „Persepolis“ sowie ein original Filmplakat von Sophia Lorens „Die Frau vom Fluss“. Im Kino, wird hier deutlich, ist Satrapi zu Hause.

Dennoch soll es noch einmal um ihre Comics gehen. Danach gefragt, was Sie damals dazu bewegt hat, überhaupt die Arbeit an „Persepolis“ aufzunehmen, erklärt sie, dass es eine Art Notlösung gewesen sei.

Sie habe immer und immer wieder ihre Geschichte erzählen müssen - aufgewachsen ist sie in Teheran, als Teenager lebte sie vier Jahre in Wien, anschließend Rückkehr nach Teheran, wo sie visuelle Kommunikation studierte, 1994 emigrierte sie dann endgültig nach Frankreich. „Irgendwann sagte ich mir: Marjane, vielleicht solltest Du daraus etwas machen, und wenn es nur dafür gut ist, dass Du Dich nicht ständig wiederholen musst.“

Marjane Satrapi.
Marjane Satrapi.

© Stéphane Roche / Promo

Zunächst habe sie auch nicht gedacht, dass sich jemand dafür interessiert. Doch es kam anders, ihre Geschichte ist eine der erfolgreichsten Comicgeschichten überhaupt. In Angoulême wurde „Persepolis“ als bestes Album ausgezeichnet, in den USA gab’s einen Ignatz-Award, in Deutschland erhielt die Geschichte den Max-und-Moritz-Preis und den Titel Comic des Jahres.

„Dass Persepolis so ein großer Erfolg wurde, überrascht mich bis heute.“

Satrapi lässt das nach wie vor staunen. „Dass Persepolis so ein großer Erfolg wurde, hat mich damals überrascht und überrascht mich bis heute.“

Das Titelbild der deutschen Ausgabe von „Persepolis“.
Das Titelbild der deutschen Ausgabe von „Persepolis“.

© Edition Moderne

Satrapi kam als Kind kaum mit Comics in Kontakt. Dass Comics ein Medium sein könnten, in denen sie zu ihrer Sprache finden könne, sei ihr erst bewusst geworden, als ihr ein Freund in Frankreich Art Spiegelmans „Maus“ geschenkt habe. „Beim Lesen wurde mir bewusst, dass es sich hier nicht um ein eigenes Genre handelt, sondern dass Comics einfach ein Weg ist, sich auszudrücken.“

Um diesem Weg zu folgen, war es aber notwendig, sich bestimmte Techniken anzueignen. Auf der Kunsthochschule im Iran erwarb sie beispielsweise kaum anatomische Kenntnisse, weil die Modelle immer unter weiten Kleidern versteckt waren. Da Comics aber mehr als andere Medien von der Bewegung der Charaktere leben, habe sie viel üben müssen.

[Neben Marjane Satrapi hat auch der Zeichner Mana Neyestani seine Erfahrungen im Iran in Comicform verarbeitet - mehr dazu hier. Ein weiterer Comic zum Thema ist die Graphic Novel „Zahra’s Paradise“ - mehr dazu hier.]

Im Laufe der Zeit seien ihre Zeichnungen besser geworden, was letztlich auch Auswirkungen auf ihre gezeichneten Memoiren hatte. „Es war dann ein glücklicher Zufall, dass die einfacheren Zeichnungen im ersten Band von Persepolis gut zur Zeit meiner Kindheit passen und sich mit dem Voranschreiten meiner Kindheit verbessern und in meiner Jugend reifer wirken“, erklärt Satrapi.

Sehnsucht und Rebellion der einfachen Menschen

Satrapis Comic hat die Wahrnehmung des Irans im Westen nachhaltig geprägt. Für die Künstlerin liegt das im Medium begründet. „Meiner Erfahrung nach wiegt das Bild schwerer als die Schrift. Menschen haben Vorstellungen und Überzeugungen, über die sie nur sehr schwer hinwegkommen. Das ändert sich erst, wenn sie sehen, dass die Wirklichkeit anders ist, als sie sie sich vorstellen.“

Geschichte im Zeitraffer: Eine weitere Seite aus „Persepolis“.
Geschichte im Zeitraffer: Eine weitere Seite aus „Persepolis“.

© Edition Moderne

Wie sehr sich die Wirklichkeit von dem Klischee unterscheidet, hat eben auch „Persepolis“ deutlich gemacht. Der Comic hat im übertragenen Sinne den von den Mullahs verordneten Tschador heruntergerissen, unter dem der Iran in den Augen westlicher Beobachter mit der iranischen Revolution verschwunden war.

Denn Satrapis Erzählungen zeigen nicht nur die grausame Unterdrückung der Freiheit durch die Mullahs, sondern vor allem auch die Sehnsucht und Rebellion der einfachen Menschen, die sich das Leben nicht verbieten lassen wollen. Nicht wenige Leser:innen waren etwa verwundert, wie viel in ihren Geschichten gelacht wird.

Für Satrapi kaum verständlich. „Es wird viel gelacht, weil Lachen zum normalen Leben gehört. Wer meint, dass die Leute aufhören, Witze zu machen, wenn um sie herum Bomben vom Himmel fallen, der täuscht sich. Das ganz normale Leben geht auch im Krieg weiter; und deshalb habe ich es gezeichnet.“

Außerdem machten sich Iraner oft über ihre Geschichte lustig. „Bei all den schrecklichen Dingen, die uns widerfahren sind, bleibt uns kaum etwas anderes. Wenn wir es schon nicht ändern können, müssen wir wenigstens drüber lachen können.“

Weitere Comics nach „Persepolis“

Gelacht wird vor allem in „Sticheleien“, Satrapis Hommage an die vertraute Frauenrunde, die sich regelmäßig in der heimischen Küche bei einem frisch gebrühten Tee einfand und über Liebe, Sex und andere Affären sprach. Der Comic ist ein gelungener Kontrapunkt zur Totenmesse „Huhn mit Pflaumen“, einer Erzählung, in der Satrapi den Freitod ihres Onkels verarbeitete.

Beide Comics sind wahre Geniestreiche, die neben „Persepolis“ dennoch einen schweren Stand haben. Umso dringlicher seien sie an dieser Stelle noch einmal ans Herz gelegt.

Geschichtsstunde: Eine Szene aus „Persepolis“.
Geschichtsstunde: Eine Szene aus „Persepolis“.

© Edition Moderne

Satrapis Abschied vom Comic war nicht geplant. Ein Freund schlug ihr 2004 vor, „Persepolis“ fürs Kino zu adaptieren. „Zuerst stand ich dem ganzen ablehnend gegenüber. Ich hatte gerade vier Jahre damit verbracht, diese Geschichte in einen Comic zu bringen. Wieso sollte ich also weitere drei Jahre investieren, um mir das Ganze noch einmal fürs Kino auszudenken? Aber dann wuchs der Gedanke, dass ich schön blöd wäre, mir diese Chance entgehen zu lassen. Und dann sagte ich mir, was soll schon passieren. Viel mehr, als dass ich einen schlechten Film mache und dann wieder Comics zeichnen muss, konnte ja nicht passieren.“

Doch statt eines schlechten Films machte Satrapi einen verdammt guten. Ihr Animationsfilm, für den sie jedes Bild noch einmal mit der Hand zeichnen ließ, wurde beim Filmfestival in Cannes mit dem Preis der Jury ausgezeichnet und für die Oscars nominiert.

Letztendlich war es aber nicht der Erfolg, sondern die Erfahrung, die die heute 51-Jährige ins Filmgeschäft wechseln ließ. „Wenn ich einen Comic zeichne, gibt es keinen Überraschungseffekt am Ende. Schließlich habe ich ja jeden Strich selbst gemacht. Das ist beim Film vollkommen anders. Da muss ich jeden Gedanken teilen, Dinge aushandeln, Kompromisse finden. Das Endergebnis ist dann meist etwas völlig anderes als das, was ich anfangs im Kopf hatte. Und das mag ich, diese Herausforderung, mich auf Neues, Überraschendes einzulassen. Es ist eine wunderbare Übung für unser Gehirn, sich mit anderen Menschen, ihren Meinungen und Überzeugungen auseinanderzusetzen.“

Eine Rückkehr zum Comic? Für Marjane Satrapi ausgeschlossen

Zuletzt verfilmte Satrapi sehenswert das Leben von Marie Curie in dem gleichnamigen Kinofilm mit Rosamund Pike in der Hauptrolle.

Sie ist nicht die einzige aus der französischen Comicszene, die im Filmgeschäft aktiv ist. Joann Sfar, Autor von „Die Katze des Rabbiners“, „Klezmer“ oder der „Donjon“-Reihe, hat beispielsweise auch schon drei Filme gedreht, darunter das grandiose Biopic „Gainsbourg – Der Mann, der Frauen liebte“.

Aber im Gegensatz zu Sfar, der immer noch fest in der Comicszene verankert ist, hat sich Satrapi komplett vom Comic gelöst. Eine Rückkehr in die Neunte Kunst ist für sie ausgeschlossen.

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„Es mag arrogant klingen, aber meine Comics waren alle so erfolgreich, dass ich inzwischen weiß, was ich machen muss. Ich habe zwar kein Rezept, das ich an andere weitergeben könnte, aber ich weiß, wie ich gute Comics mache. Und wenn ich weiß, wie etwas funktioniert, verliert es für mich an Reiz. Mir fehlt dann die intellektuelle Herausforderung. Klar, ich könnte weitermachen und meinen Stil perfektionieren, aber Perfektion interessiert mich nicht. Mich interessieren Vielfalt, Herausforderung, Neugier und Überraschung. All das reizt mich deutlich mehr als Erfolg.“

Ihr eigentlicher Erfolg bestehe darin, sich aussuchen zu können, was sie machen möchte. Ihre Erfüllung findet sie inzwischen im Kino. „Jetzt gibt es nichts Besseres, als am Set zu sein und einen Film zu machen. Dabei habe ich die schönsten Momente meines Lebens“, sagt sie.

Mit diesen Worten beendet die wohl einflussreichste Comiczeichnerin, die die Neunte Kunst bislang gesehen hat, das Gespräch. Marjane Satrapi hat insgesamt nur vier Comicbücher gezeichnet. Die haben aber gereicht, um einer ganzen Kunstform den Stempel aufzudrücken.

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