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Männerschwarm. Frederike Haas spielt die 1922 geborene Stella Goldschlag.

© Matthias Heyde/Neuköllner Oper

"Stella" an der Neuköllner Oper Berlin: Das blonde Böse

Auf Verrat steht Musical: Die Neuköllner Oper erzählt die Geschichte der jüdischen Gestapo-Agentin Stella Goldschlag.

Sie war Jüdin, Gestapo-Agentin und jetzt ist sie Musical: Stella Goldschlag, weit über Berlin hinaus bekannt als das „blonde Gespenst vom Kurfürstendamm“. „Greifer“ wurden solche Kollaborateure genannt, die darauf spezialisiert waren, ihre untergetauchten Glaubensgenossen ans Messer zu liefern. Und die berüchtigste Greiferin haben Komponist Wolfgang Böhmer und Autor Peter Lund jetzt zur Heldin ihres „deutschen Singspiels“ an der Neuköllner Oper gemacht.

Keine ganz naheliegende Idee bei einer Frau, die als moralisch verrottete Verräterin betrachtet wurde. Goldschlag hat 300 der rund 8000 in Berlin im Nationalsozialismus versteckt lebenden Juden auf dem Gewissen. Trotzdem hat sie 1946 die Dreistigkeit, sich unter falschem Namen um eine Entschädigung als Opfer des Faschismus zu bemühen. Stattdessen fliegt sie auf und bekommt zehn Jahre sowjetische Lagerhaft, der später weitere Prozesse folgen. Von einer reuigen Sünderin wandelt sich Goldschlag vor Gericht zur hartnäckigen Leugnerin ihrer Taten. Sie konvertiert zum Christentum, heiratet 1958 in dritter Ehe einen Nazi und bekennt sich öffentlich als Antisemitin. 1994 begeht sie Selbstmord, im Alter von 72 Jahren.

Klingt wie ein Stoff, aus dem Albträume sind? Nicht für Peter Lund. Der Musical-Professor von der Universität der Künste befasst sich in seinen mutigen Stücken als Autor und Regisseur regelmäßig mit auf den ersten Blick wenig unterhaltungsaffinen Themen wie Tod oder Psychiatrie. Und Wolfgang Böhmer war dabei bereits in Produktionen wie „Leben ohne Chris“ oder „Stimmen im Kopf“ sein kongenialer Partner.

Selbstreflektion ist angesagt

Diesmal dient als Bühne ein rechteckiger Kasten, der den Saal in zwei Hälften teilt. Unten ist er ringsum mit spiegelnder Folie beklebt, in der sich das Publikum beim Wedeln mit den ausgeteilten Fächern betrachten kann, oben ist er mit weißen Projektionsflächen bedeckt. Merke: Selbstreflektion ist angesagt. Die Spiegel-Didaktik ist auch bei zeitgenössischen Denkmälern beliebt, wenn es um die Opfer des Holocaust geht.

Später wird die Aufforderung, Stella Goldschlags Geschick persönlich zu nehmen, von den Darstellern auch ganz direkt ans Publikum gerichtet. Aber das ist schon die einzige Überdeutlichkeit, die in „Stella“ vorkommt. Ansonsten macht Lund aus der schönen, jungen Sängerin weder ein Opfer noch eine Täterin, sondern einen verhinderten Star. Denn das ist es, wovon die 20-Jährige träumt: Nach Amerika gehen und berühmt werden! Stattdessen soll sie plötzlich Jüdin sein. „Bis vor drei Jahren wusste ich nicht mal, dass ich es bin“, bricht es aus ihr heraus und sie schimpft über das „orthodoxe Gesocks aus dem Scheunenviertel“. In Bezug auf Juden sei sie einer Meinung mit Hitler, stellt ihr Vater, ein Komponist traditionellen deutschen Liedguts, fest.

Und er in Bezug auf die „entartete Negermusik“, den von ihr geliebten Jazz, gibt sie zurück. Großartig wie differenziert und mit kraftvollem Stimm- und Körpereinsatz Frederike Haas die mal von Geltungssucht und Eigennutz, mal von Angst und Liebe getriebene Stella spielt. Sie verkörpert genau die rücksichtslose Aura, die Menschen im Guten wie im Schlechten zum Außergewöhnlichen befähigt. Und da „Stella“ immer wieder zwischen den Nachkriegsprozessen und der Nazizeit hin- und herspringt, changiert ihre Attitüde zwischen der kessen Marika Rökk und der trotzigen Hilde Knef. Nicht weniger stimmig besetzt ist das Männerquintett aus Liebhabern, Vater und Gestapo-Kommandant, das Stella auf zwei Spielebenen flankiert.

Judensterne rieseln wie Herbstlaub

Per Schiebetüren, Leitern, Ausleuchtung und Videoprojektion wandelt der Bühnenkasten (Ausstattung: Sarah-Katharina Karl) während des zweistündigen Abends fortwährend die Gestalt. Immer ist was los: Stella bemalt den Fußboden mit ihrem Credo „Überlebe!“, die von ihr verweigerten Judensterne rieseln wie Herbstlaub, hübsche kleine Choreografien bespielen den improvisierten Raum – und vor allem wird projiziert, was das Zeug hält. Alte Revuefilme, Wochenschaubilder, Fluchtvisionen von Stella und Livebilder der Bühnenkamera, auf deren Verfremdungseffekt derzeit kaum eine Inszenierung verzichten mag. Und tatsächlich gelingen im Getriebe dieser virtuosen Low-Budget-Filmcollage dabei mitunter atemstockende Bilder: etwa als Stella und die Herren – von oben gefilmt – bei einer schmissigen Musiknummer die menschlichen Blumenornamente einer Esther-Williams-Revue nachahmen und der leicht geschürzte Möchtegernstar plötzlich wie hingeblättert auf einem großen Judenstern liegt.

Klar, dass sich die Genrezitate der 30er und 40er auch musikalisch niederschlagen – auf lässige, fließende Weise. Comedian Harmonists, Chanson, Marsch, Walzer, Ragtime, Swing, Volkslied, Synagogalgesang, alles drin und mit sphärischen Querflöten- und Vibraphon-Akzenten atmosphärisch orchestriert. Gekonnt illustriert die siebenköpfige Band auch immer wieder längere Dialogpassagen. Von denen gibt es in der zweiten, erzählerisch düstereren und musikalisch weniger furiosen Hälfte dann zu viel. Stella begegnet ihrem Gewissen in Gestalt des ins KZ deportierten Vaters und der verlorenen Tochter. Ihre Schuld bleibt und wird durch keine ironische Brechung kleiner, weil das hier eben keine Nazisatire ist, auch wenn die Heldin im Finale „Ich bin eure ewige Jüdin, euer einziger deutscher Star“ singt. Beklommen beginnender, lang anhaltender Premierenjubel.

Neuköllner Oper, bis 7. August, nächste Vorstellungen 26. und 29. Juni, 20 Uhr

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