Kultur: Das schlägt dem Bass den Boden aus
Es wummert wieder, alle haben Spaß: Wie funktioniert die Popkultur? Ein Lexikon
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Heute versammeln sich im Tiergarten zehntausende Menschen zu einem Getöse, das Loveparade heißt, seit 1989 existiert und noch immer ratlos macht. Nicht nur, dass die Jugend sich so merkwürdig ausgelassen gebärdet. Sie kann sich auch nicht erklären. Jedenfalls versteht man es nicht. Denn die Popkultur benutzt ein Fantasten-Alphabet, dessen Begriffe niemand definieren kann. Wir versuchen es trotzdem, mit einer Einführung in den Wortschatz des Pop.
Anti-Folk
In der Amateurmusikerszene New Yorks entstand in den letzten Jahren ein Subgenre der Folk-Musik, deren Protagonisten eine ungeschönte, bisweilen bewusst dilettantische Spielweise und drastische Songtexte bevorzugen. Beeinflusst von der Poesie der Beatniks (Allen Ginsberg, Jack Kerouac), klassischem Polit-Folk (Bob Dylan, Pete Seeger) und Punk. Wichtige Vertreter: Kimya Dawson, Jeffrey Lewis, Adam Green.
bpm
Abkürzung für „beats per minute“. Als Maßeinheit hat es das früher gebräuchliche MM (Mälzels Metronom) abgelöst und legt vor allem in der elektronischen Musik die Geschwindigkeit eines Stückes fest. Mit zwischen 110 und 140 Taktschlägen in der Minute treiben Techno- DJs die Tänzer an. Die Schlagfolge kann sich auf bis zu 200 (Gabber) und 1500 bpm (Speedcore) erhöhen.
Bridge
„Should I take ’em to the Bridge?“, ruft James Brown in „Sex Machine“ immer wieder. Das ist keine Einladung zu einem Spaziergang. Die „Brücke“, um die es hier geht, bezeichnet in Rock und Jazz den melodisch kontrastierenden B-Teil einer AABA-Songform. Meist treibt eine B. die Spannung enorm in die Höhe. Browns Frage blieb denn auch nicht unbeantwortet. Ein Chor rief jedesmal „yeah“. Ja, erlöse uns.
Einheizen
Es bedarf vielerlei Anstrengungen, bis bei einem Rockkonzert die Stimmung ihren Siedepunkt erreicht. Das höchste Lob für eine Vorband, deren Namen meist niemand kennt, lautet: Sie habe „ordentlich eingeheizt“.
Electro-Clash
Posing, Sex und Nietengürtel. Ein Gesamtkunstwerk aus Musik, Glamour und Performance, ins Leben gerufen von New Yorker Hippstern um DJ Larry Tee. Pop und New Wave der Achtziger verbinden sich mit dem Stilbewusstsein des Glamrock und der Attitüde des Punk. 2001 fand das erste Festival statt, wenig später waren Europas Charts fest im Griff einer aufs Musikalische beschränkten Hitvariante im Retrosound. Fischerspooner, Peaches und Chicks on Speed aber pflegen ihre Nähe zu Kunsthochschulen, Modenschauen und Galerien, wo sie schicke bizarre Shows zur Aufführung bringen. Undergroundclubs, wo die Luft dick ist und der Boden schmutzig, hat ein Clasher dagegen selten von innen gesehen.
Endstufe
Das Herzstück der Popkultur. Aber keiner weiß das, da die E. ein bei Konzerten und Tanzveranstaltungen in den Kulissen versteckter Kasten ist, der leise summt und blinkt. Das Summen stammt vom Gebläse. Denn die E. droht als letzte Durchlaufstation des Verstärkers ständig zu überhitzen. In ihr werden die elektrischen Signale auf die Leistung von mehreren tausend Watt gebracht, die die Beschallungsanlage benötigt, um LAUT zu sein.
Fuzz
1962 schloss ein Gitarrist zum ersten Mal sein Instrument an einen „Maestro Fuzz-Tone FZ-1“ an, ein Effektgerät, das die Tonsignale heftig übersteuert. Spätere Verzerrer hießen „Electro Harmonix Big Muff“ oder „Univox Super-Fuzz“, ohne sie hätten die Rolling Stones ihr „(I Can’t Get no) Satisfaction“ nicht so hübsch zersägen können.
Gabba /Gabber
Roh, schmutzig, laut gewittern dumpf- verzerrte Beats über den Hörer hinweg. Natürlicher Feind dieses akustischen Härtetests ist der bürgerliche Normal-Raver, daher wurde Gabba zur Erkennungsmelodie der Fuckparade. Der Begriff „Gabba“ ging aus dem hebräischen „Khaver“ hervor. Das bedeutet „Freund“ und war unter Feyenoord Rotterdams glatzköpfigen Fans, deren DJs den Gewalttechno erfanden, ein geläufiger Terminus.
Gothic
Kajalschatten, Schnallenstiefel und bodenlange schwarze Mäntel – wie einer Totengruft entstiegen, spielt diese Subkultur mit Insignien des Todes und der Zukunftslosigkeit. Die Nullbock-Generation flüchtet in romantische Gegenwelten. Ob der Weltuntergang noch bevorsteht oder schon stattgefunden hat, ist in der Szene umstritten. „Believe in Nothing“, propagieren Paradise Lost. Jüngere Musikstile wie Death-Metal überwölben die Düsternis mit einem Lärmkult der Härte.
Groupie
Früher auch als Muse bezeichnete Person, meist weiblichen Geschlechts, die den Musiker nach seinem Auftritt seelisch und körperlich wieder aufbaut. Die Glanzzeiten des Groupietums waren die sechziger und siebziger Jahre mit Groupies wie Pamela des Barres, die mit Mick Jagger und Jimmy Page liiert war.
Hookline
Songzeile oder Melodie, die sich einem sofort einbrennt, obwohl man es gar nicht will. Berühmtes Beispiel: „You can’t hurry love, you just have to wait“.
Line-up
Besetzung, in der eine Band bei einem Konzert auftritt oder eine Platte aufnimmt – die Mannschaftsaufstellung.
Muckertum
Von den Vielen, die sich als Teenager eine große Popkarriere erträumen, sind nur wenige tatsächlich dazu berufen. Der Rest fügt sich ins Unvermeidliche – und spielt bald auch so. Das gepflegte M. ist Musik minus Hoffnung.
Nightliner
Rollendes Heim für Bands und ihren technischen Stab bei einer Tournee, meist doppelstöckiger Reisebus, mit Pritschen, Sitzgruppen und DVD-Playern, die angemietet werden. Werbung: „You Rock We Roll“. Kosten: 630 Euro am Tag. Billiger als ein Hotel, aber schlecht für Groupies, die von Rockstars abgeschleppt werden. Wenn sie aufwachen, befinden sie sich in einer anderen Stadt.
Old School
Inbegriff des Originalen, Echten, Unverfälschten. Vor allem im HipHop gebräuchlich, wo die Neigung, sich auf Pioniere wie Grandmaster Flash und Run-DMC zu berufen, besonders stark ausgeprägt ist. O. Sch. heißt: Du weißt, wie’s geht.
Pitch
Seit den späten Siebzigern findet sich ein Schieberegler mit Pitch-Control Standard an hochwertigen DJ-Plattenspielern. Durch Veränderung der Abspielgeschwindigkeit können im Tempo differierende Stücke einander angeglichen werden. Dabei ändert sich die Tonhöhe.
Pop
Ursprünglich für den schrill-adretten Auswuchs der an Disco orientierten Spaßkultur (Popper) gebräuchlich. Erst mit dem postmodernen Siegeszug einer Alltagstechnik, die den Anpassungszwängen der Gesellschaft durch Überaffirmation begegnete, wurde P. zum Generalbegriff der konsumfixierten und konformistischen Warenwelt. Pop meint ständige Eskalation, in der Körper wichtiger sind als Gedanken.
Riff
Das bekannteste R. der Rockgeschichte geht so: Damdamdamm Damdamdadam Damdamdam–damdam. Wie bei Deep Purples „Smoke On The Water“ ist ein R. als rhythmische, wiederkehrende Ton-/ Akkord-Folge der markanteste Teil eines Songs und bewirkt, dass das Publikum auf Konzerten immer schon loskreischt, obwohl noch keine Zeile gesungen wurde. Berühmte Beispiele sind auch „Walk This Way“ von Aerosmith, „Come As You Are“ von Nirvana und „Another One Bites The Dust“ von Queen.
Sample
Wenn die Musikgeschichte ein Steinbruch ist, dann gleicht das S. als Songsplitter einem Fossil. Die digitale Welt macht’s möglich: Es lebt und atmet.
Shouter
Eigentlich ein Schreihals. Der brüllt und verausgabt sich aber so charmant, dass man ihn für einen Sänger hält.
Singer/Songwriter
Es gibt sie noch: die Musiker, die ihre Lieder nicht nur selbst erleben, sondern auch selbst schreiben und singen.
Soundsystem
Bezeichnung für eine mobile Diskothek. Die ersten S. waren mit Lautsprecher- und Verstärkertürmen beladene Kleinlastwagen, die in den späten Sechzigern bei improvisierten Tanzveranstaltungen auf Jamaika eingesetzt wurden. Zugleich ist der Begriff im Reggae und seinen Abarten ein Synonym für die operative Einheit aus Plattenaufleger (DJ) und Sänger (Toaster oder MC).
Techno
Musealer Begriff, bitte nicht weiter verwenden. Rainer Schaller, der neue Geschäftsführer der Loveparade, spricht lieber von „elektronischer Tanzmusik“.
Wah-Wah
Als die Haare länger und die Haschschwaden immer dichter wurden, musste der Rock’n’Roll entschleunigt werden. Also wurde ein Fußpedal erfunden, mit dem Gitarristen die Töne ihres Instruments blubbernd – lautmalerisch: Wah-Wah – zerdehnen können. Führte zu Funk, Hardrock und Fußgelenkschwellungen.
Yeah
Durch die Beatles in die moderne Musik eingebrachtes Füllwort, das sich zum universellen Anfeuerungs- und Begeisterungsbegriff entwickelte. Selbst DDR- Staatschef Walter Ulbricht war machtlos: „Mit der Monotonie des Je, Je, Je und wie das alles heißt, sollte man doch Schluss machen.“
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Neulich in der Pop-Redaktion des Tagesspiegel. Es klopft. Vor der Tür steht ein langhaariger Mann in Lederkluft. Er sagt: „Hallo, ich bin Rockstar und melde mich mit meinem neuen Album zurück.“
Sebastian Handke, Nadine Lange,
Kai Müller, Christian Schröder,
Jörg Wunder
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