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Kultur: Dem die Seele fror wie Zünglein, Zeh und Ohr Der Dichter Michael Lentz vollendet

die Werkausgabe seines Vorgängers Jesse Thoor.

Nicht jeder kann als Berliner durchgehen, der in Berlin geboren ist. Wer die Briefe des Dichters Jesse Thoor liest, 1905 als Peter Karl Höflein, wie er selber schreibt, „unter Schmerzen im Schatten einer Monarchie geboren“, der wird ihn für einen echten Steiermärker halten; so unverkennbar ist ihr österreichischer Tonfall. Die meisten Briefe, aus dem Exil in England und der Tschechoslowakei an seine Tante Josefine Matschl in Wien gerichtet, sind in der neuen, bisher umfangreichsten Werkausgabe enthalten, die Michael Lentz im Anschluss an Michael Hamburgers Edition 1965 herausgegeben hat.

Sie zeugt in Briefen, Gedichten und Erzählungen vom Heimweh und der Naturverbundenheit des Dichters, der auch während seiner Berliner Jugend auf Wanderfahrten nach Österreich ging, das die Eltern 1905 verlassen hatten und wohin sie 1912 noch einmal für drei Jahre zurückkehrten. Er selbst hat als Erwachsener nur wenige Jahre, als aktiver Kommunist auf der Flucht vor Hitler, von 1933 bis 1938 in Wien gelebt. Von seinen Genossen, die den ehemaligen Berliner Anarchokommunisten als Trotzkisten verdächtigten, trennte er sich 1939 mit der Klage, „dass sie mein Talent niederzuhalten bestrebt sind“. Er starb 1952 bei einem Besuch in der Heimat, von seiner Tante in Wien gepflegt und von Freunden im Osttiroler Lienz begraben.

Literaturlexika verzeichnen ihn deshalb mit Recht als deutsch-österreichischen Dichter. Schon Peter Hamm, Herausgeber seiner Gedichte bei Suhrkamp, hat auf Thoors Verwandtschaft mit der Dichtung seines österreichischen Landsmanns Theodor Kramer hingewiesen, mit dem er auch das Emigrantenschicksal im britischen Exil teilte. Bei beiden Dichtern entdeckte Hamm eine „Unmittelbarkeit des Elementaren“ und einen „plebejischen Tonfall“ – mit dem Unterschied, dass sich Kramers Lyrik vor und nach dem Exil gleichgeblieben sei, während seinem Landsmann „im Exil völlig neue Dimensionen zuwuchsen, die aus Höfler schließlich Jesse Thoor werden ließen“.

Diesen Dichternamen, eine Kombination des alttestamentarischen Propheten Jesaja mit dem germanischen Donnergott, nahm Höfler 1938 an, und unter ihm ist sein einziger zu Lebzeiten gedruckter Gedichtband 1948 fast unbeachtet erschienen. Jetzt ist er „Ich, der Dichter Jesse Thoor – / dem Zünglein, Zeh und Ohr / und die Seele fror!“ Als sein posthumer „Entdecker“ kann Walter Höllerer gelten, der 1954 fünf der letzten „Rufe und Reden“ im ersten Jahrgang der Zeitschrift „Akzente“ druckte, damals ein Zentralorgan der deutschen Gegenwartsdichtung. Seitdem hat es immer wieder Hinweise, Auswahlpublikationen und Werkausgaben gegeben: bei der Darmstädter Akademie, der auch die vorliegende Ausgabe zu verdanken ist, und zuvor bei den Verlagen Lambert Schneider, Eremitenpresse, Europäische Verlagsanstalt und eben bei Suhrkamp.

Ein „verkannter“ Dichter war Jesse Thoor nie, wenn sich des noch kaum publizierten Autors und Flüchtlings in Brünn schon 1938 namhafte Kollegen annahmen: Michael Hamburger berichtet, Thomas Mann habe sich für Höflers Gedichte interessiert und einige 1939 in seiner Zeitschrift „Maß und Wert“ publiziert. Zwei Gutachten von Franz Werfel und Alfred Neumann verschafften ihm ein Stipendium und Ausreisevisum nach London durch Hubertus Prinz zu Löwensteins American Guild for German Cultural Freedom und dessen Deutsche Akademie der Künste und Wissenschaften im Exil. In London wurde der Dichter Michael Hamburger, wie Höfler in Berlin geboren und schon 1933 nach England emigriert, sein Freund. Deutschland besuchte Thoor 1950 noch einmal und verließ es fluchtartig wieder. Nicht einmal das Honorar für den Abdruck einiger Gedichte in der „Frankfurter Rundschau“ hat er sich abgeholt.

Eine breitere Leserschaft hat wohl nur Peter Hamms Auswahl 1975 erreicht. Was er dort mit den zwei Dimensionen von Thoors Werk umschreibt, sind die zwei Welten des Frühwerks im Ton der klassischen Vagantendichtung: Thoors Sonette aus den Jahren 1934 bis 1944 und die eigenwillig religiösen, mystisch inspirierten „Reden, Rufe und Lieder“ der Jahre 1944 bis 1952, die man nur zögernd das Spätwerk des nicht einmal fünfzigjährigen Dichters nennen möchte. Hamburger zufolge war „der fromme Dichter der ,Reden und Rufe’ jedenfalls noch radikaler, revolutionärer und nonkonformistischer als der Kommunist.“

Jesse Thoors ethischer Ernst und seine existenzielle Metaphorik erinnern sowohl Michael Hamburger wie jetzt Michael Lentz an Barockdichter von Gryphius bis Hoffmannswaldau, die der Autodidakt Thoor vermutlich nicht einmal kannte. Ihre Verwandtschaft verdanke sich „tiefer Verwurzelung in einer religiösen und sprachlichen Tradition“ (Hamburger). Für Lentz verlieh die formale Regelhaftigkeit von Psalm und Sonett, die Höfler-Thoor wie die Dichter des Barock bevorzugte, „seiner Sprache erst die Sicherheit des Ausdrucks und kanalisierte ihre stilistischen Unsicherheiten, wie sie sich in seiner Prosa ab und an noch bemerkbar machen.“ Seine aktualisierte Werkausgabe fügt den zwölf bekannten Prosastücken Thoors – neben den Briefen und unveröffentlichten Gedichten – eine weitere Erzählung „In der Scheune“ hinzu. Auch sie endet wie ein Echo auf Andreas Gryphius’ Klage „Vanitas! Vanitatum Vanitas!“: „Vor einem Schaufenster blieb ich stehen und betrachtete in der Scheibe mein eigenes Bild. Die Augen lagen tief im Kopf und hatten dunkle Ränder. Träume und Wünsche lagen in ihnen begraben; sie stierten mich an mit namenlosem Weh.“ Hannes Schwenger

Jesse Thoor:

Das Werk. Hrsg. auf Grundlage der von

Michael Hamburger besorgten Edition und mit einem Essay von Michael Lentz.

Wallstein, Göttingen 2013. 468 Seiten, 24 €.

Hannes Schwenger

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