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Die Fabrikarbeiterin Josephine (Clara Gostynski) setzt Uhren zusammen, mit feinsten Präzisionswerkzeugen: Szene aus "Unrueh"

© Seeland Filmproduktion

72. Berlinale: Bilanz der Encounters-Reihe: Die Befreiung der Zeit

Eine Uhrenmacherin, eine gehörlose Boxerin – und der Blick von Jean-Luc Godard: die Filme im Encounters-Wettbewerb der Berlinale

Es sind feinste Präzisionswerkzeuge, mit denen die Fabrikarbeiterin Josephine hantiert, um das winzige Rädchen einzusetzen, das Herz jeder Uhr. Dazu Sprungfedern, Schräubchen, das Ziffernblatt. Hier, im Uhrendorf im Jura wird die Zeit hergestellt. Von ihrer Vermessung, ihrer politischen, ökonomischen, sozialen Dimension, erzählt der Schweizer Film „Unrueh - Regisseur Cyril Schäublin wurde am Mittwochabend mit dem Regie-Preis der Sektion ausgezeichnet.

Der Ort ist Ende des 19. Jahrhunderts auch eine Hochburg der Anarchisten, weshalb der russische Kartograf und Revoluzzer Kropotkin angereist ist - um sich alsbald in Josephine und den Anarchismus zu verlieben. Schäublins Historientableau ist selber ein Wunderwerk der Präzision, wenn er die Zärtlichkeit der Mechanik studiert, und obendrein die beginnende Industrialisierung der Arbeit, mit Stechuhren, erhöhtem Produktionstakt und Gendarmen, die die Uhren im Dorf kontrollieren.

Alle sind freundlich im Dorf, auch die Beamten und die Fabrikbesitzer. Und doch liegt Rebellion in der Luft, der stetig wachsende Widerstand gegen die Indienstnahme menschlicher Lebenszeit. Einer der schönsten Filme dieses Jahr in Encounters.

Wo kommen wir her? Etliche der 15 Encounters-Beiträge verteidigen, was verloren zu gehen droht: Menschlichkeit, Zusammenhalt, Freiheit im Geiste.

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In „Small, Slow but Steady“ ist es ein in die Jahre gekommener Boxclub, in der die junge, gehörlose Profiboxerin Keiko trainiert. Der Clubbesitzer muss nach dem zweiten Schlaganfall aufhören, in der Pandemie bleiben die Boxer beim Training aus, der Club muss schließen. Keiko verliert ihre zweite Heimat. Auch Sho Miyakes Film ist ein feinsinniges Drama, das die schnellen Faustrhythmen beim Training zu Schlagzeug-Soli musikalisiert.

Bald fühlt man sich selber heimisch zwischen Boxsack und Garderobe. Und man begreift, was es für eine Gehörlose bedeutet, wenn alle wegen Corona Maske tragen und sie nichts von den Lippen ablesen kann. Ein Film auch über Intensität und den Zauber wortloser Kommunikation.

Die gehörlose Profiboxerin Keiko (Yukino Kishii) verliert ihre zweite Heimat, als der alte Boxclub schließen muss. Der Besitzer (Tomokazu Kimura) muss nach einem Schlaganfall in Rente gehen.
Die gehörlose Profiboxerin Keiko (Yukino Kishii) verliert ihre zweite Heimat, als der alte Boxclub schließen muss. Der Besitzer (Tomokazu Kimura) muss nach einem Schlaganfall in Rente gehen.

© Production Committee & Comme des Cinemas

Die Vergangenheit behelligt die Gegenwart. Im griechischem Dokumentaressay „The City and the City“ bevölkern die von den Nazis ermordeten Juden aus Thessaloniki die heutige Stadt. Archivaufnahmen und Re-Inszenierungen öffentlicher Erniedrigungen und Erschießungen trotzen der Verdrängung. Die Träume der Toten und die Traumata der Überlebenden gehen in eins, und die Geschichte wird zum Wiedergänger.

Manchmal kollidieren die Zeiten auch, und das Ergebnis ist ein irritierender, erhellender Clash. Etwa wenn Ruth Beckermann, Jahrgang 1952, in ihrem Dokumentarexperiment „Mutzenbacher“ Männer im heutigen Wien die pornografischen Texte des historischen, wegen Pädophilie-Passagen lange indizierten „Mutzenbacher“-Romans vortragen lässt. Eine offene Versuchsanordnung zur gerade vielbeschworenen toxischen Männlichkeit, die über den Widerhall des alten Texts auch moralische Positionen zu MeToo befragt, ohne diese obsolet zu machen. Die österreichische Dokumentarfilmerin wurde dafür am Mittwoch mit dem Preis für den besten Encounters-Film geehrt.

Auch ein Film aus Ruanda wurde gezeigt: "Father's Day" über Frauen und Misogynie im Nachklang des Genozids

Zur Frage der Männlichkeit finden sich in der Reihe zwei geografisch fernab gelegene, thematisch jedoch im gleichen Echoraum angesiedelte Beiträge: Kivu Ruhorahozas „Father’s Day“ ergründet in ruhigen Sequenzen das zutiefst gestörte Verhältnis zwischen Männern und Frauen im Nachgang des Genozids in Ruanda; „Brother in Every Inch“ aus Russland setzt Virilität und Flugangst junger Kampfjetpiloten ins Bild. Zwei symbiotische Zwillingsbrüder in der Ausbildung träumen vom Fliegen, das am Ende jedoch ein kriegerischer Akt ist. Ein Film mit einer zuletzt doch recht simplen moralischen Botschaft.

Kurdwin Ayub gewinnt mit ihrem rasanten Ösi-Burka-Pop-Film "Sonne" den Berlinale-Preis für den besten Erstlingsfilm.
Kurdwin Ayub gewinnt mit ihrem rasanten Ösi-Burka-Pop-Film "Sonne" den Berlinale-Preis für den besten Erstlingsfilm.

© AFP

„Mutzenbacher“ gehört zu den provozierenden Titeln der Encounters-Sektion, die ja eigentlich vor allem jüngere, eigenwillige Arthouse-Stimmen versammeln möchte. Nicht immer überzeugen, wenn die freie Essayform sich in der Verrätselung erschöpft, etwa in Gastón Solnickis Wien-Poem "A Little Love Package". Oder wenn Jöns Jönsson in "Axiom" für die Geschichte eines jungen Identitätsschwindlers und Hochstaplers keine eigene Bildsprache findet.

Den Blickwinkel der Postmillennials nimmt Kurdwin Ayubs rasante Ösi-Burka-Pop-Erzählung „Sonne“ ein: eine junge Kurdin zwischen Youtube-Songkarriere und muslimischen Traditionen - die in Wien lebende Exil-Irakerin Ayub gewann dafür den Preis für den besten Erstlingsfilm. Bertrand Bonellos Lockdown-Mädchen-Fantasie „Coma“ nutzt nicht nur wie Ayub Handyvideos und Social-Media-Formate, sondern auch Animationstechniken, Influencerin-Auftritte und Soap-Opera-Sequenzen mit Barbiepuppen. Beide Filme verlieren sich ein wenig im Spielerischen, driften ab. Aber wer nicht wagt, gewinnt auch nichts.

Flaschenpost zweier Kinolegenden: "À vendredi, Robinson" mit Godard und Ebrahim Golestan

Am Ende der Zeit steht der Tod. Jessica Krummacher findet in „Zum Tod meiner Mutter“ eine bezwingende Form, um vom schwindenden Leben zu erzählen, wenn eine Tochter ihre unheilbar kranke Mutter beim Sterben begleitet. Bilder wie Gemälde, Kompositionen der Nähe, des Schmerzes, des Abschieds.

Junges Kino, das verrät wiederum „Á vendredi Robinson“, ist allerdings keine Frage des Alters: „Alles ist von allen gesagt, aber es sind noch nicht alle geboren“, sagt Jean-Luc Godard darin. Der inzwischen 91-jährige Altmeister und sein bald 100-jähriger iranischer Kollege Ebrahim Golestan mailen sich jeden Freitag Nachrichten, Texte, Bilder, Filmausschnitte.

 Ruth Beckermanns "Mutzenbacher", der den Encounters-Hauptpreis gewann, basiert auf einem Casting: Männer lesen Pornografisches aus dem historischen Roman "Mutzenbacher".
Ruth Beckermanns "Mutzenbacher", der den Encounters-Hauptpreis gewann, basiert auf einem Casting: Männer lesen Pornografisches aus dem historischen Roman "Mutzenbacher".

© Ruth Beckermann Filmproduktion

Flaschenpost zweier Kinolegenden: Ebrahim Golestan (l.) und Jean-Luc Godard schicken sich Texte, Bilder, Videos: Szene aus "À vendredi, Robinson".
Flaschenpost zweier Kinolegenden: Ebrahim Golestan (l.) und Jean-Luc Godard schicken sich Texte, Bilder, Videos: Szene aus "À vendredi, Robinson".

© Écran noir productions

Der eine lebt in Rolle am Genfer See, der andere in einem Castle in Sussex. Verfallene Pracht, lebendige Geister, Flaschenpost zweier Regie-Veteranen: Das ungewöhnliche Doppelporträt der Exil-Iranerin Mitra Farahani (Spezialpreis der Jury) lebt nicht zuletzt vom feinen Humor, mit dem die alten Männer der eigenen Sterblichkeit begegnen. Wie ein Schlossgeist spukt Golestan durch das riesige Treppenhaus, ist auch mal sauer auf Godards verrätselte Botschaften.

Und Jean-Luc Godard steigt in Rolle die schmale Stiege hinauf, langsam, damit er nicht fällt. Sammelt seine Socken auf, steht vor einem Berg Bügelwäsche und zitiert Elias Canetti. „Wir sind nie traurig genug, um die Welt zu verbessern.“

Ob er noch an das Kino glaubt, fragt Golestan ihn. Godard entschuldigt sich, das sei ein bisschen eine Polizeiverhörfrage. Er trägt keine Sonnenbrille in dieser Robinsonade. Als er am Ende am Küchentisch sitzt und seinen Rotwein mit Wasser verdünnt, schaut er direkt in die Kamera. Ein milder, freundlicher, ein wenig verlegener Blick. Godard schaut einem direkt in die Augen. Und das Kinos ist ganz bei sich.

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