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Überlebende der Schoah. Die Filmemacherin und Autorin Chantal Akerman gibt ihrer Mutter eine Stimme.

© IMAGO/CAP/SFS

Regisseurin des „besten Films aller Zeiten“ : Die Familie von Chantal Akerman und das Schweigen über den Holocaust

Chantal Akermans autobiografische Erzählung „Eine Familie in Brüssel“ kreist um die Zeit im Vernichtungslager. In Deutschland wird das Werk der 2015 verstorbenen belgischen Filmemacherin gerade wiederentdeckt.

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Eine große, fast leere Wohnung in Brüssel. Darin eine Frau, am Telefon, vor dem Fernseher. Der Roman „Eine Familie in Brüssel“ beginnt mit einem Bild, das für das Werk der belgischen Filmemacherin Chantal Akerman archetypisch ist.

„Komisch ich sehe die Frau nicht draußen dabei geht sie manchmal raus läuft die Straße entlang wartet auf die Tram“, schreibt Akerman, als versuche sie, das Bild, das sich vor alle anderen schiebt, nachzuschärfen.

Innenräume sind seit Akermans epochalem Werk „Jeanne Dielman, 23 Quai du Commerce“ (1975) – vor drei Jahren bei einer Kritiker:innenumfrage zum „besten Film aller Zeiten“ gewählt – der zentrale Schauplatz ihrer Spiel- wie Dokumentarfilme. Repetitive Handlungen, Stillstand, aber auch innere Unruhe und Rastlosigkeit prägen die Figuren, die sie bewohnen.

Seit 2002 kümmert sich der Schweizer Verlag Diaphanes um das literarische Werk der Filmemacherin. „Eine Familie in Brüssel“, 1998 erschienen und nun erstmals auf Deutsch (von Claudia Steinitz) übersetzt, ist vor allem mit Akermans letztem Film „No Home Movie“ (2015) eng verwickelt. Und mit einem anderen Text, dem Auto- und Mutterporträt „Meine Mutter lacht“.

Wiederholungen schaffen eine Struktur

Der Begriff „Familienerzählung“ wäre für „Eine Familie in Brüssel“ zu konsistent und geschlossen. Akermans jüdische Familie, Überlebende der Shoah, ist über die ganze Welt verteilt im Exil. Das Gefühl der Unbehaustheit durchwirkt auch den Text. Erlebte Rede in knappen Sätzen, die kein einziger Name und kein einziges Komma zusammenhält.

Erzählpositionen und Zeiten gehen nahtlos und nicht-chronologisch ineinander über, so sind es vor allem Wiederholungen, die Struktur schaffen. Eine „Wiederkäuerin“, so nannte sich die Filmemacherin einmal. Man kann bei den zirkulären Sprachbewegung aber auch an die von Chantal Akerman gebetsmühlenartig verlesenen Briefe ihrer Mutter in „News From Home“ (1977) denken.

Chantals feministisches Meisterwerk „Jeanne Dielman“ (1975) wurde 2022 von über 1000 Kritiker:innen zum besten Film aller Zeiten gekürt.

© IMAGO/Capital Pictures

Der Text umfasst nicht mal hundert Seiten und kreist um Abwesenheiten und das Schweigen. Nach dem Tod des Vaters bleibt die namenlose Frau, die im Text nie Mutter genannt wird, allein in der großen Wohnung zurück. Mit der Familie – die Cousine, die alte Mutter der Cousine, die Tante und so weiter – bleibt sie vor allem über das Telefon in Kontakt. Die nahen Verwandten wohnen weit weg, auch die beiden Töchter, mit denen sie eng verbunden ist. Aber Nähe ist grundsätzlich fragil. Ein Wort oder ein Wort, das nicht fällt – und schon tut sich eine gewaltige Kluft auf.

Akermans jüngere Schwester ist „die Tochter die Kinder hat“, sie selbst ist die Tochter aus Ménilmontant. Sie, „die andere die keine hat“, denkt sich in die Mutter hinein. In ihren Körper, der allmählich gebrechlich wird. In ihren Kopf, in dem die Gedanken im Aufruhr sind und sich deshalb an Alltäglichkeiten wie Einkäufe festklammern. Chantal Akerman gibt Natalia Akerman eine Stimme: ihr, die sich so oft in Schweigen hüllt.

Wie die Filme kreist auch „Eine Familie in Brüssel“ um eine Leerstelle: die Zeit im Vernichtungslager. Dem Schweigen geht dabei ein nicht daran Denken voraus: „Wenn sie daran denkt beginnt sie an all das zu denken woran sie zu denken vermeidet. Sie ist sehr geschickt darin nicht an das zu denken woran sie nicht denken will das heißt sie versucht geschickt zu sein sie versucht es doch es ist so ermüdend.“

Allmählich verschiebt sich der Blick auf den Vater. Der Vater hat ein Auto und Humor. Nach seinem Schlaganfall, der im Text nicht ausgesprochen wird, mag er nicht mehr essen, er findet die Worte nicht mehr, entfernt sich. Da die Mutter es nicht mehr schafft, sich um ihn zu kümmern, kommt er ins Pflegeheim. Auch das wird nicht ausgesprochen („wir haben ihn irgendwohin gebracht“). In einer Passage beschreibt Akerman die Stunden, die auf die Nachricht vom Tod des Vaters folgen. Die Fahrt nach Brüssel, das Ankommen in der Wohnung, der in Laken gewickelte Körper des Vaters im Dunkeln. Die Familie kommt von überall her.

Gegen Ende tritt das Unzuverlässige von Erinnerung hervor. „Sie erzählt eine Menge Geschichten und nicht alle sind wahr aber manche sind wahr“, schreibt Akerman mit der Stimme der Mutter über die Tochter.

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