
© FOZ/FRANCE 2 CINÉMA/PLAYTIME
Murder-Mystery „Wenn der Herbst naht“: Der Tod lauert im Pilzragout
Der französische Regie-Veteran François Ozon serviert mit „Wenn der Herbst naht“ ein fintenreiches Familiendrama. Oder ist es doch ein Provinzkrimi? Das darf das Publikum entscheiden.
Stand:
Ein Haus auf dem Land im Burgund. Der Garten erglüht in den Farben des Herbstes, Wind rauscht in den Wipfeln. Es regnet immer wieder, doch drinnen wispert das Kaminfeuer in Großbuchstaben: BEHAGLICHKEIT. Frankreich wie aus dem Bilderbuch und doch beschleicht einen das Gefühl: Hier ist nichts so idyllisch, wie es scheint.
Die jahreszeitliche Herrlichkeit bekommt in François Ozons „Wenn der Herbst naht“ eine geradezu haptische Qualität. Unter den feuchten Farnen strecken Pilze ihre Köpfe aus dem Laub – als wären sie zu nichts Bösem imstande. Wie zum Beispiel: Angehörige vergiften.
Einen der gesammelten Pilze sortiert Michelle (Hélène Vincent) wieder aus. Giftig, heißt es in ihrem Pilzbuch. Dann hält sie inne. Was geht in ihr vor? Erwägt sie, ihn zurück in die Speise zu legen, die sie für den Besuch von Tochter (Ludivine Sagnier) und Enkel (Garlan Erlos) vorbereitet? Die Kamera verharrt kurz auf dem Gesicht von Michelle, dann Schnitt: hinein in die nächste Szene.
Der Zweifel schleicht sich hinterrücks in die Idylle
Regisseur Ozon haut Lücken in die Idylle und lässt den Zweifel hineinkriechen. Das Drehbuch hat er gemeinsam mit Philippe Piazzo geschrieben, mit dem er seit dem Weltkriegsdrama „Frantz“ (2016) regelmäßig zusammenarbeitet. Gemeinsam verstehen sie es, durch vorenthaltene Details die Intentionen der Figuren in der Schwebe zu halten und Spannung aufzubauen.
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Ozon und Piazzo führen Michelle als umsichtigen Menschen ein. Sie fährt ihre Freundin Marie-Claude (Josiane Balasko) zum Gefängnis, als deren Sohn Vincent (Pierre Lottin) seine Strafe abgesessen hat. Hingebungsvoll bereitet sie alles für den Ferienbesuch ihres geliebten Enkels Lucas vor. Warum nur hegt Tochter Valérie solch einen Groll gegen sie? Beim gemeinsamen Mahl – Michelle selbst isst keine Pilze, auch Lucas verzichtet – wird Valéries ganze Verachtung spürbar. Kurze Zeit später muss der Notarzt kommen und ihr den Magen auspumpen.
Ozon ist ein meisterhafter Erzähler. Er schildert das alles mit Muße: in ruhigen Einstellungen mit sanfter Kamerabewegung, ohne den überspitzten Tonfall einer schwarzen Komödie. Trotz des bedächtigen Tempos entwickelt „Wenn der Herbst naht“ spürbaren Zug. Hinter der Ruhe der Bilder öffnet sich Raum für psychologische Deutungen. Ein Mordversuch? Valérie glaubt fest daran und untersagt der Großmutter den Umgang mit ihrem Enkel. Für Michelle bricht eine Welt zusammen.

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Hélène Vincent spielt sie wunderbar zurückhaltend. Die Kamera von Jérôme Alméras erforscht immer wieder ihre Gesichtszüge: Man erkennt eine grundlegende Freundlichkeit, aber auch Trotz und lauernde Verunsicherung. Eingangs besucht Michelle einen Gottesdienst. Der Pfarrer hält eine Predigt über Maria Magdalena – und sofort ist klar: Auch diese Frau sucht nach Vergebung. Für was, das wird Ozon eine ganze Weile vorenthalten. Anderes bleibt vollständig unausgesprochen.
Vielschichtige Rollen für seine Schauspielerinnen
Der 57-Jährige ist ein Vielfilmer. Verlässlich kommt jedes Jahr ein neuer Ozon ins Kino. In Venedig stellt er kommende Woche bereits seine nächste Arbeit vor, die Camus-Verfilmung „Der Fremde“. Der Unterschiedlichkeit seiner Werke zum Trotz gibt es Konstanten in seinem Œuvre. Dazu gehört die Vorliebe, wiederholt mit denselben Darsteller:innen zu arbeiten. Hélène Vincent und Josiane Balasko spielten bereits in „Gelobt sei Gott“ kleinere Rollen, auch Pierre Lottin war in dem Missbrauchsdrama von 2018 dabei. Ludivine Sagnier wiederum begleitete den Regisseur durch die Anfangsjahre seiner Karriere, drehte mit ihm „Tropfen auf heiße Steine“ (2000) und „Swimming Pool“ (2003).
Gerade seinen Schauspielerinnen schreibt er gern vielschichtige, oft widersprüchliche Rollen auf den Leib. Diesmal war es ihm ein Anliegen, zwei Frauenfiguren im fortgeschrittenen Alter ins Zentrum eines Films zu rücken. Die in der Vergangenheit vor allem auf Nebenrollen abonnierte Hélène Vincent (81) nutzt die Bühne, die Ozon ihr bietet. Gleiches gilt für die 75-jährige Josiane Balasko. In Marie-Claude arbeitet sichtbar der Schmerz über die eigenen Fehler, mehr noch als in ihrer Freundin Michelle.
Das Vergangene hält die Figuren in Beschlag. Alle tragen eine Schuld mit sich herum, auch Marie-Claudes Sohn. Lottin verleiht ihm eine hypnotische, irrlichternde Energie. Doch kaum ist der Taugenichts raus aus dem Knast, kümmert er sich aufopferungsvoll um Michelle. Er sucht sogar ihre Tochter auf, um sie umzustimmen. Das Treffen mündet in einer Katastrophe.
Wie so oft bei Ozon ordnet sich das moralische Koordinatensystem alles andere als eindeutig. Er würfelt die Gewissheiten so lange durcheinander, bis man sich in einem Spiegelkabinett wähnt. Kann man das Handeln der Figuren nicht doch nachvollziehen? Vielleicht sogar gutheißen? Ozon überlässt einem selbst die Wertung, macht aber aus seiner Sympathie für diese makelbehafteten Figuren keinen Hehl. Irren ist bei ihm menschlich. Mitfühlen auch.
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