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"Toni Erdmann" von der Berliner Regisseurin Maren Ade ist mit fünf Nominierungen der Top-Favorit bei der Europäischen Filmpreis-Gala am Samstag. Auch die Hauptdarsteller Sandra Hüller und Peter Simonischek sind nominiert.

© dpa/Komplizen Film

Europäischer Filmpreis 2016: Die Verteidigung der Freiheit

Polen und die Freiheit der Kunst: Bei der Verleihung der Europäischen Filmpreise am Samstag in Breslau wird es hoffentlich nicht nur um die Frage gehen, ob Maren Ades "Toni Erdmann" gewinnt oder Ken Loachs "Ich, Daniel Blake".

Wenn der Schauspieler und Comedian Maciej Stuhr polnische Filmgalas moderiert, nimmt er gern auch die nationalkonservative PiS-Regierung aufs Korn. Nicht frontal, sondern mit eleganten, für seine Landsleute unmissverständlichen Pointen. Am Samstagabend präsentiert er in Breslau die 29. Verleihung der Europäischen Filmpreise, man kann davon ausgehen, dass er auch diesmal gewitzt kritische Worte findet. Anlässe gibt es genug: Die Drangsalierung der polnischen Filmszene, die zunehmend angehalten wird, mehr nationalpatriotische Stoffe zu verfilmen, dann der Eklat um den Propagandastreifen „Smolensk“, den kein Kino in Berlin zeigen wollte, und jetzt die Abberufung gleich mehrerer Leiter von Polnischen Kulturinstituten im Ausland.

Außenminister Witold Waszczykowski hat nicht nur Katarzyna Wielga-Skolimowska in Berlin fristlos entlassen, sondern auch Agata Grenda in New York und Roland Chojnacki in Neu Delhi beurlaubt – der liberalen polnischen Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ zufolge ebenfalls ohne Begründung. Seitens der Polnischen Botschaft in Berlin wird zwar bestritten, dass der Grund für Wielga-Skolimowskas Abberufung die „Nähe zu jüdischen Themen“ sei. Das zu behaupten, sei irreführend und falsch. Aber in einer Stellungnahme des Botschafters Andrzej Przylebski zum Jahresprogramm 2017 heißt es, man solle „es mit dem jüdisch-polnischen Dialog nicht übertreiben“. Vor allem Deutschland solle hier nicht die Rolle eines Vermittlers übernehmen; hervorgehoben wird vielmehr der polnisch-ukrainische und der polnisch-litauische Dialog.

Ebenfalls große Chancen auf den Hauptpreis in der Kategorie "Bestes Drama" hat Ken Loachs "Ich, Daniel Blake" aus Großbritannien.

© dpa

Überhaupt gelten neue Leitlinien für Polens auswärtige Kulturarbeit, die auf mehr Patriotismus, mehr Würdigung von Nationalhelden und weniger kritische Betrachtung der eigenen Geschichte hinauslaufen. Die „Gazeta Wyborcza“ zitiert aus den Vorgaben unter anderem die Empfehlung, die Institute sollten mehr Autoren einladen, die die PiS-Politik gutheißt.

Mit Maciej Stuhr ist die andere, liberale, auch selbstkritische Seite Polens bei der Gala am Samstag vertreten – nicht zuletzt was die eigene Filmgeschichte betrifft. Der heute 41-Jährige debütierte als Kind vor der Kamera in Krzysztof Kieslowskis „Dekalog 10“, an der Seite seines Schauspieler-Vaters Jerzy. Mit „Kurzer Film über das Töten“ hatte der polnische Autorenfilmer Kieslowski 1988 den allerersten Europäischen Filmpreis gewonnen.

Und heute? Bröckelt Europa auch an anderen Enden – der Brite Ken Loach lädt wenige Stunden vor der Verleihung in Breslau zum Pressegespräch über den Brexit. Küchenpsychologisch gesprochen hat Europa allemal ein schlechtes Gewissen. Ein Blick auf die Liste der für Breslau nominierten Filme legt den Gedanken jedenfalls nahe, verhandeln doch etliche davon Schuldfragen: staatliche Versäumnisse, unmenschliche Arbeitswelten, historische Verbrechen, persönliche Traumata. Loachs Sozialdrama „Ich, Daniel Blake“ über einen einfachen Handwerker, der an der Bürokratie im Jobcenter zerbricht, hat neben Maren Ades Tragikomödie „Toni Erdmann“ über das gnadenlose Vorgehen europaweit tätiger Unternehmensberater dabei die besten Aussichten in der Hauptdisziplin Bestes Drama. Wobei man Ades meisterlichem Überraschungserfolg etwas mehr die Daumen drückt, wegen der Topposition mit fünf Nominierungen (auch für Regie, Drehbuch, Sandra Hüller und Peter Simonischek), vor allem wegen Cannes. Dort war das Rennen zugunsten des ebenfalls meisterlichen Loach ausgegangen.

Favorit bei den Dokumentarfilmen dürfte der Berlinale-Gewinner „Fuocoammare/Seefeuer“ sein – mit Gianfranco Rosis Lampedusa-Flüchtlingsfilm ist das Krisenthema Nummer eins auf der Gala präsent. Bei den Komödien tritt unter anderem David Wnendts Hitler-Farce „Er ist wieder da“ an. Und wer weiß, vielleicht wird es bei den Dramen am Ende doch Pedro Almodóvars Frauen-Melodram „Julieta“ oder Paul Verhoevens Psychothriller „Elle“ mit Isabelle Huppert: In der gut 3000-köpfigen European Film Academy, die über die Preise abstimmt, sind die Spanier und Franzosen traditionell stark vertreten. Auch in „Elle“ und „Julieta“ prägen schuldhafte Verstrickungen aus früherer Zeit die Gefühle und Beziehungen der Heldinnen.

Was fehlt in der Short List der Preisanwärter, sind die starken aktuellen Werke aus Osteuropa, Protestrufe aus jenen Ländern, in denen die Meinungsfreiheit es immer schwerer hat, wie in Polen. Emin Alpers apokalyptische Istanbul-Parabel „Frenzy“ über den menschenverachtenden Kontrollwahn in der Türkei. Die jüngsten Filme der mutigen Rumänen Cristian Mungiu oder Cristi Puiu. Oder Kirill Serebrennikows streitbare, aber unbedingt sehenswerte Studie über religiösen Fundamentalismus und Totalitarismus, „The Student“. Diese Regisseure brauchen den Rückenwind ihrer europäischen Kollegen, die Versicherung, dass die Kunst frei ist in Europa – wenigstens auf dem Filmkontinent.

Die Preisverleihung in Breslau wird live gestreamt, am Samstag ab 20.15 Uhr auf www.europeanfilmawards.eu und auf der Website von Arte.

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