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Britischer Blogger mit detektivischen Talenten. Eliot Higgins wies den Einsatz von syrischem Giftgas nach und die Lügen über den Absturz von MH 17.

© Deiike Diening

Bellingcat: Die Wahrheit besteht aus tausend Krümeln

Eliot Higgins berichtet, wie er mit seinem Investigativnetzwerk Bellingcat den Kreml in Bedrängnis brachte.

Stand:

Wer sich auf Eliot Higgins und sein Buch „Digitale Jäger“ einlässt, tritt ein in eine Welt voller Lügen. Er wird konfrontiert mit der Frage: Kann man denn niemandem mehr trauen? Higgins hat sich mit der von ihm 2014 gegründeten Enthüllungsplattform Bellingcat inzwischen weltweit einen Namen gemacht.

[Eliot Higgins: Digitale Jäger. Ein Insiderbericht aus dem Recherchenetzwerk Bellingcat. Aus dem Englischen von Wolfgang Seidel. Quadriga, Köln 2021. 287 Seiten, 18 €.]

Er nimmt für sich in Anspruch, in dem derzeit tobenden Informationskrieg auf der Seite der Wahrheit zu stehen. Zumindest auf der Seite einer unparteiischen Suche nach ihr. Aber warum sollten wir ihm glauben? Ist er doch dem gleichen Internet-Biotop entwachsen wie die Verschwörungstheoretiker und Desinformationsagenturen, die die Welt immer unsicherer machen.

Im Juli 2014 stürzt Flug MH 17 der Malaysia Airlines über dem Osten der Ukraine ab. Higgins, der sich zuvor intensiv mit dem Krieg in Syrien und den Informationen im Netz auseinandergesetzt hatte, sieht einen Post auf Youtube. Auf dem Video fährt ein mobiles Raketenabwehrsystem vom Typ Buk eine Straße hinunter. Higgins ruft im Netz dazu auf, den Ort dieser Fahrt zu lokalisieren. Nur sieben Minuten später haben Mitstreiter den Ort bestimmt. Es ist der Ort Sneshne in dem Gebiet, das von Russland gesteuerte Separatisten kontrollieren. So beginnt die Geschichte der bisher spektakulärsten Untersuchung von Bellingcat – und die Konfrontation mit dem Kreml.

Informationen von Separatisten

Schritt für Schritt gelingt es Belllingcat, nachzuweisen, dass Flug MH 17 von ebendieser auf Youtube zu sehenden russischen Raketenbatterie abgeschossen wurde. Higgins’ Team von Amateurdetektiven stellt die Verbindung her zu der im russischen Kursk stationierten 53. Luftabwehrbrigade, nennt die Namen der kommandierenden Offiziere bis hinein ins Verteidigungsministerium. Nicht wenige Informationen stammten von Separatisten und russischen Militärangehörigen, die sich mit dem Absturz gebrüstet hatten oder ihren Verwandten in Russland von ihrem Einsatz einfach nur berichteten.

Der Kreml aktiviert seinen Desinformationsapparat. Die Strategie: abstreiten, abwürgen, ablenken, abschrecken. Die Gegenstrategie von Bellingcat: nachspüren, nachprüfen, nachfassen. Die Angriffe aus Russland nennt Higgins sogar hilfreich: „Es zwingt uns, bei der Recherche wirklich genau zu sein und jedes kleine Detail zu berücksichtigen und zu überprüfen.“

Higgins schildert die Methode in einer Ausführlichkeit, die das Lesen manchmal zäh macht. Aber sie ist notwendig, um zu zeigen, dass Bellingcat nicht in dunklen Hasenlöchern nach Informationen gräbt, um dann mit ebenso spektakulären wie dubiosen Sensationen wieder aufzutauchen. Bellingcat nutzt offene Quellen: Youtube, Facebook, Tweets, Instagram, alles, was unter „Social Media“ summiert wird. Genutzt wird die Schwarmintelligenz ebenso wie professionelle Expertise.

Nawalnys Vergiftung

Die Themen: der Einsatz von Giftgas im Syrienkrieg, der Neonazi-Marsch von Charlottesville 2017, die Recherche über mexikanische Drogenbosse, der Giftanschlag auf den russischen Ex-Agenten Skripal, der Abschuss eines ukrainischen Flugzeuges bei Teheran. Das Buch war fertig noch vor der letzten Untersuchung: Im Dezember enthüllte Bellingcat die Namen der russischen Geheimdienstagenten, die mutmaßlich in die Vergiftung des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny verwickelt sind.

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Politische Systeme wie das von Wladimir Putin beruhen auf der Paranoia von Geheimdienstoffizieren, die hinter jeder Enthüllung eine Spezialoperation des gegnerischen Geheimdienstes wittern. Die sich nicht vorstellen können, dass es so etwas wie ein ehrliches Interesse an der Wahrheit gibt. „Die Wahrheit“ ist für sie nur ein Konstrukt, eine Frage der Perspektive und der Interessen. Sie scheinen immun gegen den Nachweis widersprüchlicher oder falscher Darstellungen.

Das ist keine Sturheit. Fakten widerlegen ihre Weltsicht nicht, sondern bestätigen sie sogar. Die Welt, glauben sie, ist eben so: viel zu widersprüchlich für Schuldzuweisungen. Schon gar nicht an die eigene Adresse. Tatsächlich jedoch ist das System Putin nicht so immun, wie seine Vertreter gerne tun. Nach den Enthüllungen über den Abschuss von MH 17 verbot das russische Verteidigungsministerium den Armeeangehörigen die Nutzung sozialer Netzwerke.

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