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Über den Dächern schweben. Der Turm Frankfurter Tor 9 in Friedrichshain.

© Kitty Kleist-Heinrich

Berliner Türme (6): Die Türme am Frankfurter Tor: Die Zierlichen

So leicht wie die Luft: Die Kuppeln am Frankfurter Tor wirken auf geradezu selbstvergessene Weise schön. Und in einer lässt sich sogar feiern.

Wieso Frankfurter Tor? Da ist gar kein Tor, da ist ein Turm, nein, zwei Türme, Zwillingstürme. Müsste es nicht Frankfurter Turm heißen?

Wie oft habe ich sie gesehen. Nicht nur im Vorübergehen, Türme berechnen ihre Wirkung nicht auf Nähe, Türme sind Architekturen der Ferne. Von der S-Bahn aus, zwischen Warschauer Straße und Ostbahnhof scheinen sie über den Dächern zu schweben. Sie sind auf geradezu selbstvergessene Weise schön, so rundum aus Glas mit ihren grünen Kuppeln. Haben sie nicht die Leichtigkeit der Luft? Türme sind undemokratisch per se. Sie erheben sich über ihre Umgebung, schauen herab auf alles, was sonst noch hoch hinaus will.

Seltsam, dass die frühere Stalinallee nur diese beiden Türme hat. Und dann noch solche. Ein kommunistischer Turm fände seine Rechtfertigung als Symbol des unaufhaltsamen Aufstiegs des Menschengeschlechts, gipfelnd im Sieg der Arbeiterklasse. Aber die beiden haben so gar nichts Heroisches. Ich habe einmal gehört, dass Hermann Henselmann, der Architekt der Stalinallee, sein Atelier dort oben hatte, im linken oder im rechten.

Den linken kann man heute mieten: „Ob Konferenz, Empfang oder Feier im kleinen Kreis, der Turm im Frankfurter Tor 9 bietet auf vier Etagen alles, um diese Anlässe im höchsten Salon Berlins mit der einzigartigen Aussicht auf die Stadt zu einem besonderen Ereignis werden zu lassen.“ Ein perfektes Tagungsequipment sei verfügbar nebst Bar und Catering. Unter dem Angebot steht nur „Müller & Oelmann“.

Der höchste Salon Berlins! Unter den Kolonnaden am Frankfurter Tor 9 geht ein Mann gemessenen Schrittes auf und ab. Seltsam, dass man am Gang eines Menschen sein Verhältnis zu dem Ort erkennen kann, an dem er sich befindet. Dies ist unzweifelhaft ein Eigentümer-Gang, ein Ich-gehöre-hierher-Gang. Und richtig, es ist Hans-Georg Oelmann, der Turmherr.

Oelmann weiß noch, wie er das erste Mal die Tür zum Turm aufschloss. Sein Gesicht nimmt den Ausdruck akuter Baufälligkeit an. So hätten er und sein Partner Reinhard Müller damals hier gestanden. Über drei Etagen geht es nach oben. Die Holztreppe hatte sich in dem knappen halben Jahrhundert ihrer nutzlosen Existenz zu partiellem Einsturz entschlossen. Und, sagt Oelmann, wenn er und Müller damals an die Stahlrahmen der Fenster griffen, hielten sie das Metall gleich selbst in der Hand. Manchmal betrug der Temperaturunterschied zwischen Tag und Nacht hier oben 50 Grad, erklärt der Turmherr, dem ungehinderten Rundumsonneneinfall entsprach die ungeminderte Wärmeabgabe am Abend. Von wegen Künstleratelier! Hier hätte kein Mensch arbeiten können, und wohnen schon gar nicht.

Eine Gästegarderobe ist elegant in die Rundwand eingelassen, dann kommt die Küche, es ist eher eine Turmkombüse mit einer Kleinstluke. Auf dem Herd dampft es. Rinderfilet mit Mango!, erklärt der Turmkoch das Menü. Eine Stunde hat er noch, bis die Gäste kommen. Ein Steuerbüro hat den Salon über den Dächern von Berlin gemietet. Auf drei Ebenen werden seine Klienten, ein Glas Prosecco in der Hand, gleich hinaustreten auf die umlaufenden Terrassen und herabsehen auf die gewöhnlichen Steuerbürger. Was feiern eigentlich Steuerberater?

Die Gastgeber sind schon da, mit leichtem Tadel besehen sie den Eindringling, der sich benimmt, als gehöre ihm das alles. Als sich Oelmann als Turmwächter vorstellt, klart ihre Miene auf. Das Steuerbüro hat Glück, denn Oelmann lehnt viele Gäste ab. Gerade hat eine große Musikproduktion angerufen, die das neue Album eines ihrer Künstler hier vorstellen wollte. Er habe leider absagen müssen. Viel zu laut! Schließlich habe er Mieter.

Die Wohnungen unterm Turm umfassen jeweils eine ganze Etage. Die Decken sind über drei Meter hoch, die Zimmer haben Parkett und Schiebetüren. Herrschaftliches Wohnen für alle! Das war wohl die Utopie, als die Stalinallee zwischen 1950 und 1956 als erstes großes Nachkriegsensemble im zerstörten Berlin entstand. Man versteht das heute nicht mehr, aber damals glaubten die regierenden Antifaschisten, die Zukunft sei ihr Verbündeter, die Zukunft baue mit. Viele meinen, Henselmann habe die ganze Allee entworfen, erklärt Oelmann, dabei seien nur diese beiden Turmhäuser wirklich von ihm. Wir treten im zweiten Glasstockwerk hinaus auf den Außenring. Erinnern Sie diese Türme an etwas?, fragt Oelmann. Zögern. Ratlosigkeit. Dies ist der Französische Dom, und der dort ist der Deutsche Dom, sagt er. Er weiß, was nun folgt: Zustimmung, Verwunderung, warum man nicht selbst darauf gekommen sei. Manche Dinge muss man wissen, um sie zu sehen.

Damals glaubte man das Ensemble am Gendarmenmarkt unwiederbringlich verloren. Die beiden Türme der früheren Stalinallee sind gleichsam Zitate der Erinnerung. Und dass das Haus gegenüber als einziges in der ganzen Allee einen dreieckigen Giebel hat, sei auch kein Zufall. Er stehe für das Schauspielhaus. Wie schon unten im Hausflur bei den schönen Wandleuchten mit ihren sparsamen Ornamenten sind auch hier die Details von einfacher Eleganz, vor allem an den Geländern. Diese Architektur auch noch Zuckerbäckerstil zu nennen, sei eine Gedankenlosigkeit, meint Oelmann. Er ist Rechtsanwalt. Wie kommt ein Rechtsanwalt eigentlich zum Turm?

Richtig, die Türme!, stöhnte die Wohnungsbaugesellschaft Mitte in den neunziger Jahren, was sollen wir bloß damit machen? Seit Ewigkeiten war niemand mehr oben gewesen. Wahrscheinlich werden sie ohnehin bald runterfallen; nie genutzt, waren sie reiner Zierrat, baufälliger Zierrat. Zur Einweihung der Stalinallee ist die Partei- und Staatsführung mit dem Fahrstuhl hinaufgefahren, um runterzugucken, das war alles. Ein Wunder eigentlich, dass sie überhaupt noch standen. Wahrscheinlich umwehte sie der Wind so von allen Seiten, dass sie immer die Balance hielten.

1998 kauften Müller und Oelmann die beiden Turmhäuser. Reinhard Müller gründete ein Jahr später die Bürgerstiftung Denkmalschutz Berlin. Er versteht was vom Bauen, ich vom Baurecht, erklärt Oelmann. Sie waren ein erprobtes Paar, aber sie wussten beide, dass das, was sie vorhatten, vor allem Ärger bringen würde. Woher denn sollten sie die historischen Elemente nehmen, etwa die alten gebogenen russischen Neonröhren, die im Kreis den Kuppelhimmel erleuchten? Entscheidend ist dann, dass man gute Mitarbeiter hat. Der Wichtigste ist der Zufall, Oelmann und Müller hatten längst gelernt, sich auf ihn zu verlassen, und tatsächlich: In einer früheren russischen Kaserne fand sich ein ganzes Lager dieser Leuchten.

Heute sind die Türme vollkommen klimatisiert, eine große Bar ist da, drei 360- Grad-Terrassen. Hat er noch nie daran gedacht, hier oben zu wohnen? Hat er nicht. Sie vermieteten den Turm überhaupt nur, weil die Nebenkosten so hoch seien, das Ziel sei der sich selbst tragende Turm.

Gegenüber tritt ein junger Mann auf die Terrasse. Dort hat die Stiftung Denkmalschutz ihren Sitz, und manchmal findet eine Kunstausstellung statt. Obwohl man da gar nicht reinkommt? – Eben darum, lächelt der Turmwächter salomonisch. Was könnte exklusiver sein als eine Ausstellung, die nicht jeder sehen kann?

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