
© Oleksandr Roshchyn
Dokumentation „Timestamp“ auf der Berlinale: Wenn die Klassenzimmer zerbombt sind
Mit „Timestamp“ dokumentiert Kateryna Gornostai den Schulalltag in der Ukraine und zeichnet das kaleidoskopartige Bild einer Gesellschaft, die mit aller Kraft die Bildung ihrer Jüngsten verteidigt.
Stand:
Die Ukraine hat derzeit die niedrigste Geburtenrate der Welt. Gegen diesen Trend stellt sich die 35-jährige Regisseurin Kateryna Gornostai aus Kyjiw: Sie hat soeben in Berlin ein Baby zur Welt gebracht, einen Tag vor der Weltpremiere ihres Dokumentarfilms „Timestamp“ auf der Berlinale.
Der gesunde Junge ist einige Wochen zu früh dran, aber offenbar wollte er unbedingt dabei sein, wenn zum ersten Mal seit 1997 ein ukrainischer Film im Wettbewerb des Festivals läuft.
Kinder, die einige Jahre älter sind als er, stehen im Zentrum des zweiten Langfilms seiner Mutter. Von März 2023 bis Juni 2024 besuchte sie mit ihrem Team besonders stark vom russischen Angriffskrieg betroffene ukrainische Schulen und beobachtete den dortigen Alltag.
Eine der ersten Stationen ist das rund 100 Kilometer von der Front entfernte Kaminanske, wo sie bei einer Einschulungsfeier dabei sind. Schick angezogen stehen Kinder und Eltern auf dem Sportplatz, gerade haben zwei Schülerinnen ein Gedicht vorgetragen, das von Lachen und Singen handelt, da heult eine Sirene los. Luftalarm. „Bitte gehen Sie in den Schutzraum. Bringen Sie alle Kinder nach unten“, sagt eine junge Frau ins Mikrofon und kurz darauf sitzen alle unter der Erde.
Kinder in Kellern
Keller gehören zu den Hauptschauplätzen von „Timestamp“, der auch immer wieder die Ruinen von Schulgebäuden in den Blick nimmt. In einer der heftigsten Szenen findet die Trauerfeier für eine Direktorin direkt neben den Trümmern ihrer komplett zerbombten Schule statt, in der sie starb. Vater und Tochter sitzen neben ihrem Sarg, Schüler stehen hinter ihnen, ein Priester findet harte Worte für Russland.
Der Film wirkt wie ein großes Mosaik, das von einem weiblichen A-cappella-Chor sehr dezent begleitet wird. Die meisten Orte und Personen kommen nur einmal in den Blick, Interviews gibt es keine. Dennoch entsteht ein Gefühl der Nähe zu den Lehrkräften, Kinder und Jugendlichen, die häufig in ganz normalen Unterrichtssituationen wie Sport- oder Englischunterricht zu sehen sind. Bei Feiern und Prüfungen ebenfalls.
Sind Klassenräume zerstört, wird eben online unterrichtet und improvisiert. Eine resolute Mathelehrerin in Borodianka hat sich zum Beispiel eine Tafel an die Außenwand einer Garage geschraubt, an der sie vor der Laptop-Kamera ihre Formeln erklärt.

© Oleksandr Roshchyn
Kateryna Gornostai hat durch ihren Debütspielfilm „Stop-Zemlia“ bereits Erfahrung mit dem Drehen im Schulumfeld. Darin ging es um drei ukrainische Teenager in der Oberstufe. Ein berührender, authentischer Film, der 2021 den Gläsernen Bären der Berlinale Jugendjury gewann. Nur am Rande schien darin der bereits seit 2014 laufende Krieg auf.
Dem toten Bruder gewidmet
„Timestamp“ rückt ihn nun ins Zentrum und zeichnet das Bild einer Gesellschaft, die mit aller Kraft die Bildung ihrer Jüngsten verteidigt. Diese müssen dabei auch Dinge lernen, die bei ihren westeuropäischen Altersgenossinnen niemals auf dem Lehrplan stehen. Zum Beispiel, wie man einen Arm abbindet. An dem dabei benutzten Band namens Tourniquet wird die Zeit notiert, zu der es angebracht wurde.
Nach diesem Zeitstempel ist Gornostais Film benannt, wobei er selbst wie ein solcher funktioniert, hält er doch eine Zeit fest, die für immer in die Psyche der jetzigen Schülergeneration eingeschrieben sein wird.
Wenn Kateryna Gornostais Sohn Glück hat, wird er eine Schulzeit ohne Luftalarm, Schweigeminuten und Trümmerberge erleben. Vom Krieg ist er trotzdem jetzt schon betroffen, denn er hat ihm seinen Onkel genommen. Gornostais Bruder Maxym ist 2023 mit nur 23 Jahren gefallen. Sie hat ihm „Timestamp“ gewidmet.
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