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Die Coronaepidemie verstärkt für viele Menschen die Einsamkeit.

© Julian Stratenschulte/dpa

Drohende Einsamkeit: Berlin wird unheimlich still

Für viele Ältere und Singles ist die verordnete soziale Isolation bedrückend. Einsamkeit ist programmiert. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Andrea Nüsse

Ruhig ist es geworden. Wenig ist von der vibrierenden Energie der Großstadt noch zu spüren. Die Strassen sind leerer, die U-Bahn auch. Schulen und Kitas sind verwaist. Noch sind wir in der Phase der Entschleunigung. Es ist die letzte Stufe vor der Ausgangssperre. Wird sie verhängt, weil sich zu viele Menschen nicht an die Empfehlungen zur Eindämmung der Pandemie halten, wird aus der Ruhe eine unheimliche Stille werden. Ein Blick nach Paris oder Mailand genügt. Und dann wird es um uns nicht nur sehr still, sondern auch schnell einsam.

Einsamkeit ist ein zerstörerisches Gefühl

Immer mehr Menschen leiden schon in Zeiten normaler Betriebsamkeit unter Einsamkeit, diesem zerstörerischen Gefühl, sozial isoliert, abgetrennt zu sein. Einsamkeit ist eine neue Volkskrankheit in unseren schnelllebigen, mobilen Gesellschaften. Hilfsorganisationen sprechen gar von einer „Epidemie im Verborgenen“, die eben auch krank macht.

Natürlich denkt man zunächst an ältere Menschen, deren Sozialkontakte oft eingeschränkt sind. Sie machen in Berlin 20 Prozent der Bevölkerung aus. Erstaunlicherweise leiden aber auch verstärkt Jugendliche und jüngere Menschen darunter. Wenn nun zur Eindämmung der Pandemie wirklich niemand mehr ohne triftigen Grund aus dem Haus gehen darf. Dann werden sich plötzlich noch viel mehr Menschen einsam fühlen. 

Das mag nicht für Familien mit Kindern zutreffen, die eher mit der ungewohnten Dauernähe in der eigenen Wohnung zu kämpfen haben. Und sich verzweifelt einen Rückzugsort wünschen, wo sie mal allein sein könnten. Aber Berlin ist die Hauptstadt der Single-Haushalte – in etwa der Hälfte aller Haushalte lebt eine Person allein. Junge und Alte. In anderen deutschen Großstädten ist es ähnlich. 

Menschen werden abrupt auf sich selbst zurück geworfen

Natürlich sind nicht alle, die allein sind, gleich einsam. Der entscheidende Unterschied ist, ob man selbst beschließt, sich zurückzuziehen, Zeit mit einem Buch oder in der Natur zu verbringen – oder ob man zum Alleinsein gezwungen wird. So wie dies mit einer Ausgehsperre jetzt droht. Sie würde viele Menschen abrupt auf sich selbst zurückwerfen.

Plötzlich würden viele Menschen realisieren, wie wichtig ein geregelter Tagesablauf, eine Struktur, das Funktionieren-Müssen für sie sind - als Schutzwall gegen Grübeleien über die großen Sinnfragen. Schon jetzt zeugt die verstärkte Nutzung von telefonischen Krisen- und Seelsorgediensten davon, dass viele Menschen mit den Einschränkungen schlecht zurecht kommen.

Wir bekommen private Isolation verordnet

Natürlich gibt es dank Internet und sozialer Medien heute unzählige Möglichkeiten zur Kommunikation und zur Ablenkung. Und Republik macht gerade eine Art digitaler Revolution durch. Homeoffice und E-Learning werden hoffentlich dauerhaft Einzug in den deutschen Arbeitsalltag halten. Doch ob diese Verbindungen gegen die soziale Isolation im Privaten helfen, die wir jetzt verordnet bekommen?

Die Ratgeberliteratur zum Entrinnen aus der Einsamkeit füllt Regale und ist voller Anleitungen in wenigen Schritten: Rausgehen, Sport treiben, das alte Adressbuch durchgehen und sich verabreden, dem Leben einen Sinn geben. Nur dass ein Großteil dieser Ideen derzeit eben nicht umsetzbar ist. Auch die Ministerin für Einsamkeit in Großbritannien - ein Amt, das 2018 neu geschaffen wurde - kann derzeit wohl wenig helfen: Ab 2023 soll es für dieses Leiden Verschreibungen für soziale Aktivitäten statt Medikamenten geben.

Wir stehen also vor dem Paradox, dass Einsamkeit eigentlich nur damit zu bekämpfen ist, was uns derzeit zumindest physisch verboten ist: Soziale Kontakte. Ein schwacher Trost: „Hundert Jahre Einsamkeit“ wie im Epos des kolumbianischen Autors Gabriel Garcia Marquez werden es nicht werden. Aber 100 Tage vielleicht schon.

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