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Edward Bergers Film „Ballad of a Small Player“: Kapitalismus bis zum Kotzen
Nach den Oscar-Gewinnern „Im Westen nichts Neues“ und „Konklave“ jagt der deutsche Regisseur nun Colin Farell als Hochstapler durch die Glücksspielmetropole Macau. Man kann kaum hin- und doch nicht wegschauen.
Stand:
Ein Gespenst geht um in Macau und es ist sicher nicht der Kommunismus. Die Einheimischen nennen es Gweilo, fremder Geist, für Europäer, die ab dem 19. Jahrhundert vermehrt auch durch China spukten. Es lügt und betrügt, schwitzt und atmet schwer, die eigene Auflösung fürchtet und ersehnt es gleichermaßen.
Wenn es morgens erwacht, ruft es „Fuck!“ – weil schon wieder ein neuer schlimmer Tag bevorsteht, aber damit auch die Angst zurückkehrt, dass am darauffolgenden alles vorbei sein könnte.
Eine Gestalt gibt diesem Gespenst Colin Farrell, der im neuen Film von Edward Berger als spiel- und trunksüchtiger Hochstapler durch die Glücksspielmetropole und chinesische Sonderverwaltungszone taumelt. Im Rausch der Farben und Lichter dürstet der hoffnungslos verschuldete und polizeilich gesuchte Engländer, der sich selbst Lord Doyle nennt, immerfort nach dem einen großen Gewinn, der alle seine Probleme lösen soll.
Doch seine gelben Lederhandschuhe bringen ihm beim Black-Jack-ähnlichen Kartenspiel Baccara kein Glück mehr und auch das letzte Bündel Geldscheine aus der Blumenvase in der verwüsteten Hotelsuite sind bald aufgebraucht.

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Drei Tage hat der falsche Lord noch Zeit, um sich aus dem Wasser, das ihm längst bis zum Hals steht, vor dem Ertrinken zu retten – länger lassen sich Banken und andere Instanzen nicht mehr hinhalten.
Das Grundkonzept des Glücksspiels gegen die Zeit kennt man in Variation aus diversen Las-Vegas-Filmen, Berger fügt ihm in seiner dritten Romanverfilmung nach „Im Westen nichts Neues“ und „Konklave“, die insgesamt fünf Oscars eingebracht haben, noch eine spirituelle Ebene hinzu.
Die Teufelin wartet im Casino
Die potenzielle Erlösung winkt zunächst allerdings nicht etwa aus dem nahegelegenen buddhistischen Tempel, sondern in Form einer jungen Frau namens Dao Ming (Fala Chen), die der verlorenen Seele einen letzten Kredit gewährt und in vielerlei Hinsicht bei der Odyssee durch Macau übernatürlichen Beistand leistet.
Leider hat das Gute keinen leichten Stand in dieser, von Berger fiebertraumhaft inszenierten Zwischenwelt, wo überall Versuchungen lauern und der Teufel als unschlagbare Glückspielerin allzeit bereitsitzt, um Sünder in den Abgrund zu jagen – zum Beispiel über das Geländer der Dachterrasse hinab auf den Hotelparkplatz.
Der einzige Weg, um hier zu bestehen, so formuliert es ein anderer High Roller aus England, sei es, jegliche Scham abzulegen. Besonders für Briten, die seit Generationen mit Gewaltherrschaft in ihrer DNA auf die Welt kämen. Mit diesem Schicksal will sich Lord Doyle nicht abfinden.
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Den Kampf um des Hochstaplers Seelenheil kämpft Colin Farrell in Bestform. Unter Dauerstrom steuert er seinen Helden von einem Stresstest zum nächsten, bis man kaum noch hinschauen kann und den überfälligen Kollaps mit jeder Szene stärker herbeisehnt.
Doch Doyle ist als Abgesandter eines Kapitalismus im Endstadium wandelbar und widerstandsfähig. Noch als die modische Fassade längst abbröckelt und den Blick auf die moralische und spirituelle Leere im Inneren freigibt, lassen sich Kritiker mit Charme und Versprechen immer wieder hinhalten.
Zum Beispiel die Privatdetektivin Cynthia Blithe, gespielt von Tilda Swinton, die den Betrüger über mehrere Kontinente verfolgt hat. Unbürokratisch will sie eine hohe Summe eintreiben, die er einer alten Dame geklaut hat, gibt sich auf Doyles Betreiben dann aber doch immer wieder der Hoffnung hin, dass Mensch und System reformierbar sind.
Mit der für den Film neu erfundenen Figur weht ein Hauch von Wes Anderson in diese Netflix-Produktion, der allerdings auch dafür sorgt, dass sie in dem ansonsten stimmig-apokalyptischen Wimmelbild ein eher störender Fremdkörper bleibt.

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Ein roter Faden, stilistisch oder inhaltlich, lässt sich in Edward Bergers Karriere bisher nicht ausmachen, daran ändert auch „Ballad of a Small Player“ nichts. Fehlende Hingabe darf man dem Regisseur dennoch nicht attestieren: Mit Verve zelebriert er in Macau, wo übrigens zehnmal so viel Umsatz gemacht wird wie in Las Vegas, die audiovisuelle Reizüberflutung, und verdichtet so lange, bis alles irgendwo wieder rausmuss. Kapitalismus bis zum Kotzen. Geht am besten am All-You-Can-Eat-Buffet im Casino.
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