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Kultur: Ein Ort wie Donnerhall

Ob Maerz-Musik-Festival oder Berliner Philharmoniker – die Klassik zieht es hinaus aus ihren Sälen

Stand:

Zur Schwellenangst kommt jetzt noch die Höhenangst. Trotzdem dürfte es rappelvoll werden, wenn das Maerz-Musik-Festival am Sonntag zur Uraufführung von Moritz Gagerns „Babylonischer Schleife“ lädt. Bei dem Konzertsaal handelt es sich nämlich um das 207 Meter hoch gelegene Drehrestaurant des Berliner Fernsehturms – und ungewöhnliche Klangräume haben Konjunktur. Ganz gleich, ob es sich um Veranstalter Neuer Musik handelt oder um Anbieter von Klassik auf der fieberhaften Suche nach neuem, jüngeren Publikum: Sie alle schwören auf den Geist des besonderen Orts.

Manchmal mit geradezu bizarrem Erfolg: Bei der jüngsten „Yellow Lounge“, einer Konzert- und Promotionreihe der Deutschen Grammophon, harren lange vor Beginn Schlangen junger Klassikfans bei nächtlicher Kälte vor einem Kreuzberger Techno-Tempel aus. Einlasstechnisch wäre das vielleicht gar nicht nötig, aber um den Reiz, vom bulligen Türsteher durchgewunken zu werden, soll hier niemand gebracht werden. Drinnen hält man zu einem von DJs aufgelegten Mix aus gehäckselter Klassik tapfer am Bier fest. So lange, bis sich Pianist Yundi Li – mit Sonnenbrille auf der Nase – endlich seinen Weg durch die rund um den Flügel lagernden Fans bahnt. Während hinter ihm am Fenster die Hochbahn vor der Silhouette des nächtlichen Berlin vorbeizieht, donnert er in ein paar kurzen „Live-Acts“ virtuosen Chopin in den betonierten Raum.

Nicht jeder, der sich auf die Suche nach neuen Klangraumerfahrungen begibt, muss deswegen gleich ein musikalisches Modeopfer sein. Schon gar nicht MaerzMusik-Chef Matthias Osterwold, der den Begriff der „Stadtbespielung“ zu einem Leitmotiv des morgen startenden Festivals machte. Mit dem Konzert auf dem Fernsehturm treibt er nur eine Idee auf die Spitze, mit der sich jeder seriöse Klangkörper auseinandersetzen muss. Selbst die Berliner Philharmoniker. Alljährlich setzen sie zum 1. Mai die Segel, um ihr Europakonzert an einem „historisch signifikanten Ort“ zu geben. Dieses Jahr, wo man zugleich das 125-jährige Bestehen feiert, ist es eine geschichtsträchtige Mischung aus Ostalgie, Nostalgie und zum Maifeiertag passenden Industrieambiente, die das Orchester ins Kabelwerk Oberspree lockt.

Ob das Programm mit Wagner und Brahms dabei auch auf akustischer Ebene in einen erhellenden Dialog mit der Halle treten wird, ist zweifelhaft. In diesem Dilemma sind die Philharmoniker nicht allein: traditionelle symphonische Orchestermusik ist für den Konzertsaal geschrieben und auch für zeitgenössische Komponisten scheint es noch immer attraktiver, mit Kratz- und Schabegeräuschen anstatt mit Raumklängen zu experimentieren. Dass man Hörgewohnheiten in Einklang mit dem Raum auf den Kopf stellen kann, versucht das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin zu beweisen: Es wird zum Maerz-Musik-Auftakt im Haus der Berliner Festspiele am Freitag Klaus Langs Installation „fichten“ aufführen – und zwar unsichtbar für ein liegendes Publikum. Das Experiment kommt nicht von ungefähr: RSB-Orchesterdirektorin Maria Grätzel ist ein ausgesprochener Fan von ungewöhnlichen Orten. Allerdings nicht um jeden Preis: Die beliebten Konzerte im Aquarium stoppte sie: „Die Akustik war unter der Würde unserer Musiker.“ Mit dem Eichensaal des Wirtschaftsministeriums entdeckte sie dagegen ein akustisches Juwel für Kammermusik und belebte auch die Schlüterhofkonzerte im Deutschen Historischen Museum wieder. Zu Himmelfahrt wird das Ensemble mit barocker Musik den Dialog mit der barocken Architektur des Hofes aufnehmen.

Motor aller Raumklangexperimente bleiben Kammermusik, Vokalmusik und Alte Musik. Am 19. April aber loten auch die Orchesterstipendiaten der Berliner Philharmoniker mit dem Pianisten Pierre-Laurent Aimard die Geschichte der Raumklangmusiken aus: von der Entdeckung der akustischen Perspektive in den mehrchörigen Werken Giovanni Gabrielis bis hin zum Spiel mit beweglichen Elektronikklängen im 20. Jahrhundert. Mit großer Regelmäßigkeit und Konsequenz gehen das Potsdamer Persius Ensemble und vor allem die Reihe „Architektur und Musik im Dialog “ des Rias- Kammerchors auf musikalische Immobiliensuche. Dabei ist der Raum nicht nur coole Location, sondern wird zur Fragestellung, auf die musikalisch reagiert wird, erklärt Ulrich Konrads, der architektonische Berater der Initiative. Wo ungewöhnliche Räume mitspielen, hat auch ungewöhnliches Repertoire eine Chance – etwa, wenn am 5. Mai Kurtágs Kafka-Fragmente durch die pompöse Treppenhalle des Landgerichts in Mitte geistern.

Gemeinsam ist all diesen Experimenten die Sehnsucht nach dem einzigartigen, nicht reproduzierbaren Erlebnis: dem letzten Freiraum in einer Welt reproduzierbarer Hochqualitätsklänge. Doch schon versucht die Tonträgerindustrie, auch diese Erlebnisse verfügbar zu machen. Während man in der Alten Musik bereits die möglichst „unverfälschte“ Aufnahmen am authentischen Ort entdeckt hat, erweist sich der Mehrkanalton von SACD und DVD-Audio als einziges Medium, um sowohl frühbarocke Mehrchörigkeit als auch Raumklangexperimente von Stockhausen adäquat darzustellen. Auch hier treiben nicht nur audiophile Spezialisten die Bewegung an: Während konservative Hörer oft bei ihrer teuer erworbenen Stereoanlage blieben, verhalfen Heimkino- und Filmmusikfans dem nötigen Equipment aus 5 plus 1 Lautsprechern zum Durchbruch.

Der Druck, auch beim Liveerlebnis auf das an der CD geschulte Hörverhalten einzugehen, wächst. Kein Wunder, dass neben der Maerz-Musik auch die Betreiber von Berlins neuestem Konzertraum, dem Radialsystem, das Hören im Liegen wiederentdecken. Wer den Industriebau betritt, um sich bei einem Nachtkonzert zu Bachs live gespielten Goldbergvariationen auf seiner Yogamatte auszustrecken, dem ist, als wäre er soeben in ein cooles CD-Cover hineingestiegen. Snobismus ist das nicht: Bach schrieb das experimentelle Stück für einen an Schlaflosigkeit leidenden Mäzen.

Festival Maerz-Musik: 16.–25. März; Nachtkonzert im Radialsystem: 17. 3.; Yellow Lounge, Maria am Ostbahnhof 20. 3. (Live Act: Jean-Yves Thibaudet).

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