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Enrico Rastelli, 1896 – 1931.

© ullstein bild

Enrico Rastelli: Liebling der Götter

Die Welt ist rund, und das Wunderbare lauert überall: Erinnerung an den großen Fußballjongleur Enrico Rastelli.

Schwebend, ja wie im Fluge, balanciert er auf einem großen Lederball und hält gleichzeitig mehrere Fußbälle verschiedener Größe: den einen zwischen Rist und Wade, einen anderen im Nacken und zwei auf vorgestreckten Zeigefingern, indes am frei nach hinten ausschwingenden Bein wie durch Zauber zwei Bälle an Ferse und Fußrücken haften … So sah ihn das Berliner Publikum, als er Ende der zwanziger Jahre, auf der Höhe seines Ruhms, im Wintergarten auftrat: Enrico Rastelli, der große Jongleur, der das Publikum zu Beifallsstürmen hinriss.

Man hat ihn den „Liebling der Götter“ genannt und mit Mozart verglichen – ihn, der 1931, kaum 35 Jahre alt, starb. Seine legendären Fußball-Nummern ließ er patentieren; eine Fotografie der Wintergarten-Szene diente der Nürnberger Sportartikelfirma Kaspar Berg – ein naher Verwandter des Wiener Komponisten Alban Berg – als Werbeplakat. Der berühmte, sich weit über seine physischen Grenzen hinaus fordernde Ballakrobat war immer auch ein geschäftstüchtiger Vermarkter seiner Begabung, mit der er das übliche Repertoire der Zirkus- und Varietétricks weit übertraf. Sie wurde zu großer Kunst.

Am Ende war es die Kunst des Fußballs, die er nicht nur auf der Bühne (im Fußballdress), sondern auch auf dem Feld selber erprobte, den Ball mit Kopf, Schultern, Füßen, Knien, Po und Nacken, von vorn, von hinten oder zwischen den Beinen hindurch womöglich an drei Wächtern vorbei unfehlbar ins Tor kickend.

Welch eine Vorstellung, inmitten der deutschen WM-Elf mit ihrem eleganten Auftakt gegen Australien, ihren feindynamischen Spielen gegen England und Argentinien, ja in ihrem kleinen Finale gegen Uruguay Rastelli zu imaginieren – Rastelli gar als einzigen Gegner! Fraglos hätte er, wie ein Samurai mit seinem Schwert, alle Schläge mit blinder Sicherheit pariert und den Ball springen lassen, wohin er, der Dompteur, es nur wollte.

Für Spieler mit besonders ausgeprägtem Ballgefühl gilt noch heute die ehrenvolle Titulierung als „Rastelli des Fußballs“. Wer von unserer Nationalelf, wer unter all den WM-Teilnehmern darf sie wohl mit Fug und Recht tragen?

Zwar gab es nach ihm noch weitere große (Fuß-)Balljongleure wie Francis Brunn, Sergei Ignatow oder Anthony Gatto. Aber keiner von ihnen schien die Leichtigkeit, den kindlich-spielerischen Charme auszustrahlen, wie sie diesem früh, offenbar an einer verschleppten Leukämie verstorbenen Jahrhundertjongleur zu eigen war.

Wer war dieser Mann, den die Menschen als achtes Weltwunder bestaunten, dessen buchstäblich über-irdische Fähigkeiten Ärzte und Wissenschaftler beschäftigten? Dem Egon Erwin Kisch eine große Reportage, Ringelnatz ein Gedicht und der Philosoph Walter Benjamin eine wundersame Erzählung widmeten? Ihm, der lächelnd dastand wie ein Kind und bunte Bälle in die Luft wirbelte, sie auf einem Stab im Munde wieder auffing, indem der Ball, gegen alle Erwartung, wie beseelt auf diesem ruhen blieb? Der den Dingen Leben einzuhauchen und die Schwerkraft der Materie aufzuheben schien? War doch die Fußball-Jonglerie nur die Vollendung jenes schon früh von ihm geübten Spiels mit den Bällen – so als wollte er seinem Publikum nur dies eine mitteilen: Alles Gelungene ist rund, im irdischen wie im außerirdischen Leben.

Enrico Rastelli entstammte einer alten Artistenfamilie aus dem norditalienischen Bergamo. Er kam 1896 in Samsara an der Wolga zur Welt. Drei Bälle drückte der Vater dem Vierjährigen in die Hand, nicht ahnend, dass er damit den Grundstein zu einer außergewöhnlichen Karriere legte. Eigentlich sollte der Sohn Akrobat werden, aber der Junge, der von Anfang an nichts anderes als jonglieren wollte, übte heimlich mit Tellern und anderen Gegenständen. Erst als der Vater ihn zufällig dabei ertappte und sein Talent begriff, gab er seinem Drängen nach. Mit elf Jahren gab Enrico in einem italienischen Wanderzirkus sein Debüt, mit 18 gelang ihm ein Weltrekord: das Jonglieren mit acht Tellern. Es war ein ähnlicher Triumph wie um dieselbe Zeit sein Rekord mit zehn Bällen.

In Russland indessen lernte Enrico nicht nur seine spätere Frau Harriet kennen, ebenfalls Akrobatin und Spross einer bekannten Artistenfamilie. Irgendwo im tiefen Sibirien trug sich außerdem zu, was Karl-Heinz Ziethen, Archivar und Autor mehrerer Bücher über die Genies der Jonglerie, ein Schlüsselereignis für Rastellis Laufbahn nennt: die Begegnung mit dem japanischen Jongleur Takashima. Von ihm übernahm der junge Rastelli die japanische Tradition des Jonglierens mit Holzstäben und fest gewickelten Wollkugeln, die er alsbald durch Gummibälle ersetzte. Mit diesen wurde er berühmt.

Ihre Lebendigkeit und Beseeltheit mochte jenen hüpfenden Pingpongbällen gleichen, die in Kafkas Erzählung dem Junggesellen „Blumfeld“ wie zwei Hündchen folgen und ihr närrisches Spiel mit ihm treiben. Auch Bauhaus-Künstler wie Oskar Schlemmer faszinierten diese BallSensationen, mit ihren Eleven schulten sie an Rastellis Kunst den Sinn für Gleichgewicht und Koordination. Mit den Gummibällen gelang es Rastelli, sein Repertoire erheblich zu erweitern und seine Kunstfertigkeit zu jener Meisterschaft auszubilden, die ihn nach London und New York, nach Paris, Budapest und Wien führte. 1925 trat er erstmals im Wintergarten auf. Von da an kehrte er alljährlich zu Auftritten nach Berlin zurück.

Von Takashima aber mochte Rastelli außer den Requisiten und der Technik noch etwas anderes übernommen haben – etwas, was sämtliche Berichte als sein „Geheimnis“ umkreisen: den asiatischen Geist des Übens, des unermüdlichen, in seinem Fall geradezu besessenen Trainings, das ihm am Ende jene Mühelosigkeit ermöglichte, jenes herrschaftsfreie Spiel mit der Materie, das seine Zuschauer verzauberte. „Wie eine Koloratursängerin ihre Töne“, so der Pianist Edwin Fischer, habe Rastelli seine Bälle behandelt. Für diesen Geist des Übens mochte die besondere „Gegenstandsempfindlichkeit“, die man Rastelli nachsagte, die Voraussetzung sein: der überfeine Tastsinn, der sich über seine gesamte Epidermis zu verteilen schien und ihn alle Kunststücke auch mit geschlossenen Augen ausführen ließ. Aber sie erklärt ihn nicht.

Um diese Frage hat auch Walter Benjamin seine kleine Geschichte „Rastelli erzählt …“ gesponnen. Darin berichtet Rastelli selber von einem anderen legendären Großmeister des Balls, der im geheimen immer von einem Zwerg begleitet wurde. Der saß bei den Vorführungen in dem Ball. „In vieljähriger Übung“, so Rastelli in Benjamins Erzählung, „hatte er sich in jeden Impuls und in jede Bewegung seines Herrn zu fügen gewusst, und nun spielte er auf den Sprungfedern, die im Innern des Balls saßen, so geläufig wie auf den Saiten einer Gitarre. Um jedem Verdacht aus dem Wege zu gehen, ließen beide sich niemals nebeneinander blicken und wohnten auf ihren Reisen niemals unter demselben Dache...“ Doch Ball und Meister zeigten auch einmal ihre vollendete Kunst, als der Zwerg ohne Wissen seines Herrn erkrankt war und gar nicht darin saß …

Hier schließt sich wieder das Geheimnis, das Benjamin für einen Augenblick zu lüften schien. Es bleibt so unergründlich wie das Spiel, das Rastelli nicht nur in große Kunst verwandelte, sondern auch zur Utopie werden ließ, zum Sieg wahrer Meisterschaft über allen falschen Zauber, allen falschen Ehrgeiz. Das Unbewegte und Kugelgestaltige, das eine Grenze hat (so der Philosoph Parmenides), im Spiel seiner Bälle schien diese Grenze durchlässig zu werden, schien das Kugelförmige – Urform der Ruhe und Vollkommenheit – ins Tanzen zu geraten. Die Welt wurde wieder rund und das Wunderbare zum Ereignis. Wie noch heute bei jedem Tor, dessen Schütze trifft wie Enrico Rastelli: gleichsam ohne zu zielen.

Marleen Stoessel

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