Kultur: Ewig ist die Baustelle der Revolution
„Berlin um 1800“: Eine Ausstellung in der Alten Nationalgalerie entdeckt die klassische Periode der Stadt
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Städtebaulich trägt Berlin seit 300 Jahren Übergrößen. Das Schloss: ein gewaltiger Kasten. Die Friedrichstadt: ein im frühen 18. Jahrhundert aus dem Sandboden gestampftes Stadtviertel, größer als die mittelalterliche Doppelstadt Berlin/Cölln. Es dauerte Jahrzehnte, bis die Berliner die neuen Straßen mit standesgemäßen Häusern bebaut hatten. Erst am Ende des Jahrhunderts lobte Friedrich Nicolai, der Schriftsteller, Verleger und Freund Lessings und Moses Mendelssohns, die Stadt uneingeschränkt: „Dass Berlin mit sehr vielen schönen, zum Teil prächtigen Häusern und Palästen prange, zeigt der Augenschein. Die meisten fallen wegen der breiten Straßen und großen Plätze besser in die Augen, als in vielen anderen Städten, wo oft die prächtigsten Paläste in engen Gassen versteckt liegen.“
Berlin um 1800: Das ist heute eine nahezu vergessene Stadt. Sie wurde nach hundert Jahren vernichtet, um größer, teurer, protziger zu bauen. Auch davon steht nicht mehr viel. Berlin hat sich während seiner 770-jährigen Geschichte immer wieder neu erfunden. Die jüngste Selbstfindungsphase prägt das Stadtbild seit 1989. Zu jeder Berliner Häutung gehört es, erst einmal Tabula rasa zu machen. Wobei vorausgegangene Geschmackideale korrigiert werden, wie das „Planwerk Innenstadt“ zeigt. Das war schon im 18. Jahrhundert nicht anders, als das mittelalterliche Berlin verschwand. Die Bauten der Jahre um 1800 wiederum wurden zwischen der Reichsgründung 1871 und dem Weltkriegsbeginn 1914 – der größten Bauphase, die die Stadt je erlebt hat – dem Abriss geopfert.
Glaubt man alten Bildern, war Berlin um 1800 ein ziemlich unberlinisches, weil äußerlich ansprechendes Gemeinwesen. Nur wenige erhaltene Bauwerke wie das Brandenburger Tor, Schloss Bellevue im Tiergarten und der runde, freistehende Hörsaal der Tierarzneischule auf dem Charité-Gelände erinnern daran. Eine Ausstellung der Berliner Kunstbibliothek zeigt, wie schön Berlin damals war. „Neue Baukunst: Berlin um 1800“ versammelt in der Alten Nationalgalerie Berliner Architekturansichten der Goethezeit. Berlin, so wird klar, war um 1800 schon einmal Hauptstadt der Moderne.
Conrad Wiedemann bringt es auf den Punkt: Neben der Weimarer Klassik, so der Berliner Germanist, sollte endlich von einer Berliner Klassik gesprochen werden. In Jena und Weimar wurde um 1800 gedacht und gedichtet – in Berlin hat man das Gedachte und Gedichtete auf seine Wirkung hin überprüft. Im Berliner Nationaltheater fand die Uraufführung von Goethes „Götz von Berlichingen“ statt, dort stieg Schiller zum meistgeschätzten Dramatiker der Epoche auf. Dieses Erbe ist nicht gänzlich verdrängt. Wer mehr über Berlin um 1800 erfahren möchte, sollte zu Günter de Bruyns Buch „Als Poesie gut. Schicksale aus Berlins Kunstepoche 1786 bis 1807“ greifen. Dort wird man nicht nur über Weimarer Geistesgrößen und ihre Berliner Fußtruppen, sondern auch über philosophierende Ärzte und dichtende Offiziersanwärter aufgeklärt. De Bruyns Aussteiger in den Künstlerberuf tragen Namen wie Heinrich von Kleist oder Ludwig Tieck.
De Bruyns Essaysammlung verblüfft, weil sie das raue proletarische Berlin als Hort klassisch-humanistischer Bildungsansprüche vorführt. Erzählt wird nicht vom Spree-Athen der Brüder Humboldt, sondern von Berliner Künstlern und Intellektuellen, die ihre beste Zeit vor Napoleons Einzug 1806 erlebten. Die Ideale der Französischen Revolution schienen noch unverbraucht. Architektur gehörte zu den Künsten, die den revolutionären Geist am besten verkörperten.
In Berlin wurde der baukünstlerische Aufbruch nicht nur durch Bürger, sondern durch den König und seine Familie befördert. Friedrich Wilhelm II., Neffe und Nachfolger Friedrichs des Großen, wird von Historikern gern als Fortschrittsbremse abgestempelt. Was Baukultur und Kunstförderung angeht, ist das ein Fehlurteil. Der „Dicke Wilhelm“ berief nach seinem Regierungsantritt 1786 die Architekten Langhans aus Breslau und Erdmannsdorf aus Wörlitz. Unter ihm wirkte ein preußisch-nüchternes Talent wie David Gilly im Oberbaudepartement, der obersten preußischen Bauverwaltung. Sein genialer Sohn Friedrich Gilly durfte ungehindert die Architekturgeschichte Berlins auf den Kopf stellen.
Friedrich Gillys berühmter Entwurf eines aufgesockelten griechischen Tempels, mit dem er auf dem Leipziger Platz Friedrich dem Großen ein Denkmal setzen wollte, hängt nun im Schinkel-Saal der Nationalgalerie. Als der drei Jahre später jung verstorbene Gilly sein Denkmalprojekt zur Akademieausstellung 1797 vorstellte, haben die Zeitgenossen geahnt, dass es sich um himmelsstürmende Fantasterei handelte – was den 16-jährigen Schinkel nicht davon abhielt, vor dem Blatt zu schwören, Architekt zu werden. Schinkels Schüler Stüler und Strack wiederum haben nach 1840 in Erinnerung an Gilly – und an ihren Lehrer, der bei Gilly Vater wie Sohn studiert hatte – die Nationalgalerie als Tempel auf hohem Sockel entworfen.
Berlin um 1800 reduziert sich nicht auf Ideenbaukunst. Die pragmatische Seite zeigt sich in der preußischen Bauverwaltung und der Gründung der Bauakademie, für die Friedrich Gillys Vater David steht. Der hat nicht nur Kurrikula für Architekturstudenten entwickelt, sondern auch Typenprojekte für Wohn- und Wirtschaftsbauten. Von dieser Alltagsbaukunst blieb im Stadtbild Berlins nichts erhalten. Ebenso wenig von Prachtbauten wie der Börse am Lustgarten. Mit den Mauern schwand die Erinnerung an ihre Architekten. Wer kennt noch Namen wie Friedrich Becherer, Conrad Wilhelm Titel oder Carl Ludwig Engel?
Engel entwarf 1806 die Kommissbäckerei nahe dem Alexanderplatz, ein heute anonymer Architekt ein sechsgeschossiges Speichergebäude in der Königsvorstadt. Beide nehmen in gerasterten Grundrissen und Fassaden das 20. Jahrhundert vorweg. Berliner Baukunst um 1800 atmet rationale Klarheit. Das klassizistische Ideal entsprach einer Stadt, die im 18. Jahrhundert wie kaum eine andere militärisch überformt worden war. Die Moderne begann in Berlin vor 200 Jahren: als Projekt von oben.
Alte Nationalgalerie, bis 28. Mai, Katalog (Nicolai Verlag) 29,90 Euro.
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