zum Hauptinhalt
Ethan Hawke spielt in Paul Schraders „First Reformed“ den kranken Pfarrer einer kleinen US-Gemeinde.

©  Park Circus/Festival

Filmfestival Unknown Pleasures: Gottes vergessene Kinder

Die zehnte Ausgabe des Festivals "Unknown Pleasures" zeigt im Berliner Arsenal herausragende Produktionen des amerikanischen Independent-Kinos.

Dieses Mal wolle sie nicht über Parasiten sprechen, versichert Tasha mit tränennaher Stimme. Stattdessen solle es darum gehen, was es bedeute, an einer Krankheit zu leiden, die Ärzte für eine Wahnstörung hielten. Marshia versucht sich an einer visuellen Beweisführung. Im nachtdunklen Zimmer hält sie ihre Finger ganz nah an die Kamera ihres hell erleuchteten Computerbildschirms: „Fasern kommen aus meinen Fingern. Aber die Ärzte können sie nicht sehen ... Für mich sieht es aus, als kämen sie aus meinen Fingern“, spricht sie im gebetsmühlenartigen Tonfall, während sie immer wieder an einem winzigen haardünnen Fädchen zupft.

Das Leiden der drei Protagonistinnen in „The Pain of Others“ (2018) klingt wie vom Horrorkino abgeschaut, für die Betroffenen aber ist es überaus real. In ihren selbst aufgezeichneten Youtube-Videos, die die experimentelle Dokumentarfilmemacherin Penny Lane zu einer verstörenden Found-Footage-Montage verarbeitet hat, berichten Tasha, Carrie und Marcia von Hautjucken, von schnurartigen Fasern, die aus ihrer Haut wachsen und vom Gefühl krabbelnder, beißender und stechender Bewegungen unter der Hautoberfläche. Morgellons nennt sich die mysteriöse Krankheit, die im Jahr 2002 auftauchte, sich unter anderem durch das Internet verbreitete und von Seiten der Medizin mehrheitlich dem Dermatozoenwahn zugeschrieben wird. „The Pain of Others“, zu sehen beim American Independent Film Fest „Unknown Pleasures“ im Berliner Kino Arsenal, ist ein beunruhigendes Dokument von Body Horror im Zeitalter sozialer Medien.

Erforschung der amerikanischen Peripherie

Die unheimliche Krankheit, in der sich nicht zuletzt aktuelle gesellschaftliche Befindlichkeiten spiegeln – Fremdbestimmungspanik, Umweltängste, Anfälligkeit für Verschwörungstheorien, aber auch die Rolle digitaler Gemeinschaften als Bekenntnis- und Selbsthilferaum – ist nicht das einzige Leiden, von dem die Filme der zehnten Ausgabe von Unknown Pleasures erzählen. Das von Hannes Brühwiler zusammengestellte Programm, das sich in diesem Jahr vermehrt der ländlichen Peripherie widmet, versammelt eine ganze Reihe von individuellen und gesellschaftlichen Krankheiten, für ideologische Zecke missbrauchte Leiden und vermeintliche Heilsversprechen. Gegenwartsdiagnosen kommen darin eher indirekt zum Ausdruck.

Cameron (Chloë Grace Moretz, r.) muss in „The Miseducation of Cameron Post“ in ein Umerziehungscamp.
Cameron (Chloë Grace Moretz, r.) muss in „The Miseducation of Cameron Post“ in ein Umerziehungscamp.

© Elle Driver

„SSA“ heißt die pathologisierende Abkürzung für „same sex attraction“ in Desiree Akhavans Jugenddrama „The Miseducation of Cameron Post“ (2018). Der Film spielt Anfang der neunziger Jahre im ländlichen Montana, zu den Freizeitbeschäftigungen der Teenagerin Cameron Post gehört selbstverständlich das Bibelstudium. Nachdem sie bei einer lesbischen Erfahrung erwischt wird, landet das Mädchen in einem christlichen Erziehungslager namens „God’s Promise“, wo sie unter Anleitung eines „geheilten“ schwulen Reverends und seiner Schwester auf den rechten heterosexuellen Weg gebracht werden soll.

Kaum minder indoktrinativ zeigt sich die Religion in Kent Jones schönem Frauenporträt „Diane“, der als Eröffnungsfilm gezeigt wird. Darin spielt Mary Kay Place eine allein lebende Frau, deren Alltag in der Aneinanderreihung von aufopferungsvollen Aufgaben besteht. Freundinnen werden krank und sterben, ihren Sohn verliert sie erst an die Drogen und dann an Gott. In Paul Schraders „First Reformed“ (2017) zeigt sich der Glaube dagegen als ein ständig bedrohtes Kampffeld. Die von Ethan Hawke gespielte Hauptfigur ist ein gebrochener und zudem magenkrebskranker Mann, der als Pfarrer der titelgebenden historischen Kirche eher den Souvenirshop einer Megachurch als einen wahren Ort des Glaubens zu betreuen hat. Schrader, der sich in seinem Buch „Transcendental Style in Film“ (1988) bereits mit Spiritualität und Kino auseinandersetzte, inszeniert diese Geschichte über eine existentielle Krise in beeindruckend klaren, strengen Bildern im 4:3-Format.

Unterwegs auf Äckern und im Waffenladen

Wie sehr die Religion im Selbstverständnis gerade des ländlichen Amerika verankert ist, lässt sich auch in Frederick Wisemans „Monrovia, Indiana“ (2018) studieren. Nach seinem dezidiert inklusiven Porträt der Public Library von New York richtet Wiseman den Blick auf einen Bundesstaat, der 2016 mit überwältigender Mehrheit für Donald Trump gestimmt hat. Wiseman filmt auf Äckern, in Schweineställen, im Friseursalon, im Waffen- und Pizzaladen und in der evangelikalen Kirche. Doch von der aufgepeitschten politischen Rhetorik, die man im „Trumpland“ erwartet, ist nichts zu vernehmen. Die rein weiße Kleinstadt wirkt vielmehr wie in einer Zeitkapsel eingemottet.

In der Highschool hält ein Lehrer einen quälend langen Vortrag über die glorreiche Geschichte des Basketballsports von Monrovia im frühen 20. Jahrhundert. Bei einem Treffen der Freimaurer-Loge wird ein altersschwaches Mitglied mit grotesken Ritualen geehrt. Die unheißen Debattenthemen sind Feuerhydranten und die Anschaffung einer zweiten Parkbank.

In den Kinos Arsenal und Wolf, 1. bis 21. Januar

Esther Buss

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false