Kultur: Flanieren ist eine Kunst, die nicht jeder beherrscht - eine Ausstellung über den Luxus des schweifenden Blicks
Er ist ein Mysterium. Das Lexikon bezeichnet ihn schlicht als "Müßiggänger".
Er ist ein Mysterium. Das Lexikon bezeichnet ihn schlicht als "Müßiggänger". "Den Typ des Flaneurs erschuf Paris", schrieb Walter Benjamin. "Kann schon sein", sagt Julia Schmitt, "dass der Flaneur heute etwas veraltet ist."
Gemeinsam mit 19 Studierenden aus unterschiedlichen Fachbereiche hat sich die Romanistikstudentin zwei Semester lang auf die Spuren des Typus begeben. "Ethnologisch", sagt sie. Erst habe man klassische Texte zum Flaneur gelesen, der seit Ende des vorigen Jahrhunderts zum (Selbst)Bild der literarischen Moderne gehört, dann sei man selbst zum Flaneur geworden. Schließlich der Fünf-Tages-Tripp nach Paris, der Urstadt des Flaneurs, wo die Teilnehmer ihr eigenen Projektideen entwickelten. Tonabdrücke von Ornamenten und Bodenstrukturen hat Susanne Lankow gemacht und diese Spuren in Berlin auf einer Treppe angeordnet. Schwarz-Weiß Aufnahmen von Füßen kleben als Folie an der Fensterscheibe, dahinter sind Nacht- und Dämmerfotos vom Alexanderplatz zu sehen, und in der Mitte des Raumes hängt eine Wäscheleine mit Stofftaschen, auf deren Vorder- und Rückseite Fotos von Passanten mit Tüten, Taschen, Rucksäcken angebracht sind.
Die Ausstellung ist eine Art brain storming zu Begriffen wie Großstadt, Zeit, Passanten, Spuren, Vergänglichkeit. Hier wird der Besucher schnell zum Flaneur, der sich müßig treiben lässt und nur dort verharrt, wo etwas seine flüchtige Aufmerksamkeit erregt. Davon gibt es einiges: Da ist das Uhrenprojekt von Till Bardoux, der in einem eng abgesteckten Umkreis in Mitte alle öffentlichen Uhren verzeichnet hat. "Die Uhren sind der gestrenge Gouvernantenblick der Moderne, der einen ermahnt, nicht zu trödeln", heißt es. Die Zeit zu vergessen, fällt in Berlin offenbar schwer. Doch auch im Pariser fünften Arrondissement, so hat der Romanistikstudent herausgefunden, gibt es ähnlich viele Chronometer. Keine guten Flanier-Bedingungen.
Ob man ihn Berlin überhaupt flanieren kann, und wenn ja, wo, darüber hat das Seminar keinen Aufschluss erbracht. Schon Franz Hessel beschwerte sich 1929 über die Geschäftigkeit der Berliner, die ihm mit ihrem Eiltempo das Schlendern schwer machten. "Ich bekomme immer misstrauische Blicke, wenn ich versuche, zwischen den Geschäften zu flanieren. Ich glaube, man hält mich für einen Taschendieb."
Wie schnell die Berliner wirklich sind, hat Pia Kolwe empirisch untersucht. Dazu hat sie an ausgewählten Orten in Berlin (und in Paris) gestoppt, wie lange Menschen für 25 Meter brauchen. "Ich selbst bin seh-süchtig", sagt die 28-Jährige. Irgendwann sei ihr aufgefallen, dass Menschen über Brücken langsamer gehen als durch U-Bahnschächte. Mit durchschnittlich 6,33 km/h durchschritten die Berliner bei ihrer Messung die U-Bahnstation Kottbusser Tor, über den Alexanderplatz waren es immerhin noch 5,6 km/h, während auf der Warschauer Brücke nur ein Schritttempo von 5,1 km/h vorgelegt wurde. "In Berlin scheinen die Menschen tatsächlich schneller zu gehen als in Paris", sagt Pia Kolwe und deutet auf ihre Zahlenkolonnen. Aber immerhin gehen auch die Pariser auf Brücken deutlich langsamer als durch blickarme Unterführungen. Die Zukunft, so sagt man allerdings, gehört dem Cyber-Flaneur."La Dérive. Flanerie Paris Berlin" bis 7.Mai, Chausseestraße 131, täglich 14 bis 19 Uhr
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Tina Heidborn