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Zwei Flüchtlinge im Nordirak an einer Wasserstelle.

© AFP

Sherko Fatahs Irak-Roman "Der letzte Ort": Flecken im Nirgendwo

Beklemmende Blicke auf ein fragmentiertes Land: Sherko Fatah erzählt in seinem Irak-Roman „Der letzte Ort“ die Geschichte eines entführten Deutschen.

Ein Roman, der im nördlichen, vom IS-Terror heimgesuchten Irak spielt, in dem es um eine verschattete Kindheit in der DDR geht und der sich zugleich wie eine neue, weil realistisch anmutende Version von Becketts Endspiel-Parabeln liest? Das ist eine eigenwillige, riskante Mischung, die nur von einem deutschen Autor stammen kann: Sherko Fatah, Jahrgang 1964 und aufgewachsen in der ostdeutschen Republik der Werktätigen, bevor seine Eltern nach Wien und West-Berlin übersiedelten. Fatah ist Sohn eines kurdischen Vaters und familiär verbunden mit dem Irak, den er während der Vorarbeiten am Roman intensiv bereiste.

Zu Beginn sitzt die Hauptfigur bereits in der Falle. Eingesperrt in einen Schuppen, starrt Albert zwischen zwei rohen Holzlatten nach draußen und versucht sich das vielleicht letzte Bild der Außenwelt einzuprägen: „Dieser Flecken im Nirgendwo würde schon allein durch seine Bedeutungslosigkeit alles, was ihm bevorstand, lächerlich wirken lassen. Ich werde in einem Stall verrecken inmitten von Bauern und Kameltreibern, umschwirrt von Fliegen und mit dieser herrschsüchtigen Sonne über mir, deren Strahlung ein Gewicht zu haben scheint.“

"Der letzte Ort" bringt das Unausdenkliche zur Sprache

Man sieht gleich, dieser Albert, im falschen Moment am Rand eines Marktplatzes aus dem klimatisierten Toyota Runner ausgestiegen und mit seinem Übersetzer von Milizen entführt, verliert auch angesichts der Lebensbedrohung nicht die Fähigkeit zu Reflexionen und belletristischen Beschreibungen der Lage. Warum auch, schließlich ist dies ein Roman, der das Unausdenkliche zur Sprache bringt und eine Suada der letzten Dinge entwickelt: „Sie werden mir vor laufender Kamera den Kopf abschneiden, und doch tut dieser Kopf nichts anderes als sonst auch: grübeln.“

Die Entführer sind unschlüssig, denn wider Erwarten ist Albert nur ein kleiner Fisch, für den das Lösegeld ausbleibt. Verkaufen, ermorden, bei einem Attentat verwenden – was lässt sich mit ihm anfangen? So beginnt ein Horrortrip, der von Verschlag zu Verschlag führt, von einer Terrorgruppe zur nächsten, von Schiiten zu Sunniten, fiebernd und durchgeschüttelt auf Pick-up-Ladeflächen, als wären Geiseln ein landesübliches Handelsgut. Mal Schläge, Tritte und böse Blicke, mal Spuren von Freundlichkeit, die in Albert sogleich tiefe Gefühle der Dankbarkeit wecken. Auch ein Sack über dem Kopf ist stets ein gutes Zeichen; er bedeutet, dass der Gefangene später etwas nicht wiedererkennen soll, dass also sein Tod noch nicht beschlossene Sache ist.

Alberts Persönlichkeit droht sich aufzulösen in der Panik; die Demütigungen erscheinen als Antwort auf die Haltung der Demut, die er im Irak schon immer einnahm: „Wie um dem bösen Blick einer allgegenwärtigen Bedrohung zu entgehen, hatte er sich als wohlgesinnter, demütiger Fremder in diesem Land bewegt, peinlich darauf bedacht, keine Spur der Ungeduld und des Überdrusses zu zeigen.“

DDR und Irak: zwei gescheiterte Staaten, die für überraschende Parallelen gut sind

Ausschnitt aus dem Cover des Romans "Der letzte Ort".
Ausschnitt aus dem Cover des Romans "Der letzte Ort".

© promo / Verlag

Albert ist eine Hamlet-Figur, ein Zauderer, den es als Kulturbewahrer in den Nahen Osten verschlagen hat. Er hat über Museumsplünderungen geforscht und arbeitet nun selbst für ein Museum. Für manche Bewohner des Landes ist das offenbar nur ein weiterer Fall von Dekadenz: „Ein Mann aus dem Westen kommt hierher, es herrscht Krieg, er fährt durch die Gegend und kümmert sich um alte Steine. Was soll das?“ Das sind die Worte von Alberts Übersetzer Osama, der als junger Mann selbst einer der vielen Plünderer und Kunsträuber war. Im Wechsel mit Alberts Schicksalen und Albträumen erzählt der Roman von Osama, dessen Stellung womöglich noch heikler ist. Den „Männern aus dem Westen“ gilt er als Einheimischer, für viele Einheimische aber ist er ein Kollaborateur und Verräter. Dieses Dilemma stellt die freundschaftliche Verbundenheit mit Albert in der gemeinsamen Gefangenschaft auf die Probe.

Osama sucht Trost in den Gedanken an seine Familie und seine Frau, doch es gelingt ihm kaum, sich die geliebten Menschen auch nur vorzustellen. Auf Albert dagegen drängen in der Grübel-Zeit der Gefangenschaft familiäre Gespenster ein: Mila, seine psychisch labile und magersüchtige Schwester, und vor allem sein Vater, der dem DDR-Sozialismus anhing und die „dekadente Verweigerung“ der jüngeren Generation für dessen Ende verantwortlich machte. Nach 1989 wurde er zum zynischen Trotzkopf: „Er mied die Fernsehbilder von der allmählichen Auflösung des Kommunismus wie ein Vampir das Licht.“ Die DDR und der Irak: zwei gescheiterte Staaten, in denen der Glaube zuschanden wurde und die hier für überraschende Parallelen gut sind. Im Übrigen hat der Vater durch seine Erzählungen aus Nordvietnam und China im Sohn den Drang zur Auslandserfahrung geweckt, Geschichten wie die von dem Chinesen, der immer merkwürdig schief auf dem Stuhl saß und schließlich verlegen erklärte, dass ihm die rechte Hinterbacke fehle – seine Eltern waren so hungrig in den mageren Jahren des „Großen Sprungs“. Für den Vater war das nur ein „skurriler Unfall der Geschichte“.

Sherko Fatah verzichtet auf literarisches Spannungskino à la Schätzing

Sherko Fatah, der sich mit Romanen wie „Das dunkle Schiff“ und „Ein weißes Land“ als einer der interessantesten zeitgeschichtlichen Erzähler profiliert hat, widersteht der Versuchung, herkömmliches literarisches Spannungskino herzustellen (wie etwa Frank Schätzing in „Breaking News“). Sein Roman hat die Struktur eines Labyrinths. Ein Fluchtversuch in der Mitte des Buches führt auch nur im Kreis herum, durch Einöden, entlang an fauligen Meeresstränden und Schiffsfriedhöfen, in eine neue, verschärfte Gefangenschaft bei radikalen Islamisten. Angeführt werden sie vom „Emir“, einem Hassprediger, der verschiedenste Arten von „Ungläubigen“ kennt und einen Anschlag auf das „Haus der Lügen“ plant, den Tempel der Schiiten. Dieser Emir ist ein Mann des gezielten Rückschritts: „Mit den Händen gegessen schmeckt das Essen besser. Eure Gabeln und Löffel machen es kalt.“

Fatahs Roman ist ein Werk, das beklemmend die Verstrickungen, Schuldzuweisungen und Projektionen im Verhältnis zwischen Westen und Nahem Osten reflektiert, voller fragmentarischer Blicke auf ein fragmentiertes Land: eine verfallene Tankstelle im Niemandsland, knieende, gefesselte Menschen an Straßensperren, zerstörte Städte, realistisch und surreal zugleich: „Zerklüftet wie Riffe ragten die Ruinen neben ihnen auf… Herausgerissene Verschalungsgitter, in denen Betonbrocken hingen, ganze Stockwerke, abgesackt und offen wie die Fächer eines riesenhaften Schrankes, jedweder Hausrat, Eimer, Töpfe, Tücher und Latschen, in einer zur Ruhe gekommenen Lawine aus hellem Schutt.“ Sherko Fatah bringt Bilder zum Sprechen, vor denen man verstummt. Dieser Roman aus Gucklochperspektive hat eine Weite, wie sie in der deutschen Gegenwartsliteratur selten ist.

Sherko Fatah: Der letzte Ort. Roman, Luchterhand, München 2014, 286 S., 19,99 €.

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